Der Mensch als Teil der Natur
Veröffentlicht in GralsWelt Sonderheft 21/2008
Am 30. November 1864 versammelt sich die Elite der britischen Naturforscher im Somerset House in London, um einen der größten Naturforscher Englands zu ehren:
Charles Darwin wird die Copley-Medaille verliehen, die höchste Auszeichnung die zu vergeben ist. Die Copley-Medaille war damals fast so angesehen wie heute der Nobel-Preis.
Der so Geehrte nimmt an diesem glanzvollen Meeting nicht teil, denn er ahnt den Eklat, der kommen muss: Wie der Präsident der Gesellschaft ausdrücklich betont, wird Darwin für seine Verdienste um die Naturkunde ausgezeichnet, aber ausdrücklich nicht für sein im November 1859 publiziertes Buch „Über die Entstehung der Arten“. Fünf Jahre nach der Erstveröffentlichung ist dieses Werk für viele noch immer ein Ärgernis.
„Du meine Güte! Wir sollen vom Affen abstammen?! Wir wollen hoffen, dass das nicht stimmt – aber wenn es wahr ist, dann wollen wir hoffen, dass es nicht bekannt wird.“
Die Frau des Bischofs vom Worcester.„Die Frage aller Fragen für die Menschheit, das Problem, das allen anderen zugrunde liegt und das tiefer interessiert als irgendein anderes, ist die Bestimmung der Stellung, die der Mensch in der Natur einnimmt, und seine Beziehungen zu der Gesamtheit der Dinge.“
Thomas Henry Huxley (1825-1895).
Darwin macht es wenig aus, dass er sogar von Fachleuten, die es besser wissen könnten, solcherart gescholten wird. Er arbeitet längst an einem Folgeband, der erst im Februar 1871 erscheinen und die Diskussionen weiter anheizen wird: „Von der Abstammung des Menschen“.
Die Entwicklung des Lebens
Als Darwin seine Schrift von der Entstehung der Arten veröffentlicht, liegt die Evolutionslehre schon in der Luft; denn auch Darwin hatte Vorläufer, die bis in die Antike zurückreichen:
Jean Baptiste Lamarck (1744-1829) stellte 1809 die erste ernsthafte Evolutionstheorie auf, in der er den Wandel von Organismen im Laufe der Zeit von den kleinsten Lebewesen zu den kompliziertesten Pflanzen und Tieren beschrieb.
Auch Erasmus Darwin (1731-1802) – Charles Darwins Großvater – war schon auf der richtigen Fährte. Er fragte sich, ob die natürliche Auslese als Triebkraft der Evolution wirke.
Charles Darwins Verdienst ist eine akribische Sammlung von Fakten, die für die Evolution sprechen, und vor allem die Formulierung seiner Selektionstheorie. (Teil 2 „Die dynamische Welt der Natur“).
Im Jahrhundertstreit über die „Affenabstammung“ ging es vor allem um die folgenden Annahmen, die die Gemüter erhitzten:
1. Die Welt befindet sich nicht in einem statischen Zustand, sondern verändert und entwickelt sich fortlaufend. Diese Ansicht vertraten auch Geologen wie Charles Lyell (1797-1875). Dessen Theorie des Aktualismus geht davon aus, dass früher wie heute die selben geologischen Kräfte am Werk waren und sind. Dementsprechend benötigen geologische Veränderungen meist lange Zeit.
2. Die Evolution geht Schritt für Schritt weiter. Sie ist nie zu Ende.
3. Alle Lebewesen – einschließlich des Menschen – stammen von einem gemeinsamen Vorfahren ab und haben sich über lange Zeit in kleinen Schritten entwickelt.
4. Die treibende Kraft der Evolution des Lebens ist die natürliche Auslese (Selektion), die in zwei Phasen verläuft: Zuerst werden (möglichst viele) Nachkommen mit unterschiedlichen Eigenschaften erzeugt. Dann folgt im „Kampf ums Dasein“ die Auswahl (Selektion) der am besten angepassten Lebewesen.
Die Welt und das Leben sind demnach nicht durch einen einmaligen Schöpfungsakt entstanden. Nichts in der Welt ist statisch, alles unterliegt der Veränderung: Berge, Flüsse, Seen, Meere, Pflanzen, Tiere, Menschen.
Alles Leben ist ein Produkt der Evolution. Auch der Homo sapiens ist – als ein Lebewesen unter vielen – nicht direkt aus der Hand Gottes hervorgegangen und besitzt keine herausgehobene biologische Stellung in der Natur.
Darwins bekanntester Mitstreiter, Thomas Henry Huxley (1825-1895) erkannte sehr schnell eine Konsequenz, der Darwin in „Die Entstehung der Arten“ noch ausgewichen war:
„Die Darwinsche Theorie setzt den persönlichen Schöpfer und dessen zeitweilige Eingriffe in die Umgestaltung der Schöpfung und in die Schaffung der Arten ohne weitere Umstände vor die Tür, indem sie dem Wirken eines solchen Wesens auch nicht den geringsten Raum lässt. Sobald einmal der erste Anfangspunkt, der erste Organismus gegeben ist, so entwickelt sich aus diesem durch natürliche Zuchtwahl in fortgesetzter Weise die Schöpfung durch alle geologischen Zeitalter unseres Planeten hindurch…“ (6, S. 36).
Darwin wusste selbstverständlich, dass seine Thesen dem christlichen Weltbild (Teil 2 „Der Mensch als Teil der Natur“) mit seiner biblischen Schöpfungslehre, dem Kreationismus, widersprechen. Allerdings bezog er dazu erst in „Der Ursprung des Menschen“ vorsichtig Stellung:
„Ich weiß, dass manche die Schlüsse zu denen dieses Werk gelangt, als höchst irreligiös bezeichnen werden; allein, wer dies tut, muss zeigen, warum es irreligiöser ist, den Ursprung des Menschen als einer distinktiven Spezies durch die Abstammung von einer niederen Form zu erklären, vermittelst der Gesetze der Variation und natürlichen Zuchtwahl, als es ist, wenn man die Entstehung des Individuums durch die Gesetze der gewöhnlichen Reproduktion erklärt. Die Entstehung der Art wie des Individuums sind beide gleiche Teile jener großen Folge von Ereignissen, die unser Geist unmöglich als das Resultat bloßen Zufalls ansehen kann – ob wir nun fähig sind oder nicht, zu begreifen, dass jedes geringfügige Variieren der Struktur, die Vereinigung jeden Paares in der Ehe, die Verbreitung eines jeden Samenkorns, und andere derartige Ereignisse samt und sonders einem speziellen Zwecke dienen.“ (2, S. 272).
Gläubige Christen waren erschüttert über diese „Zerstörung des göttlichen Planes“. Naturphilosophie und Religion lagen im Krieg. Wonach sollte der Mensch sich ausrichten? Nach der „Heiligen Schrift“, oder nach dem „Gesetz des Dschungels“, dem „Kampf in der Natur“?
Die Affenabstammung
In der „Entstehung der Arten“ deutet Darwin nur mit einem Satz an, dass auch der Mensch als Teil der Natur zu betrachten sei:
„Neues Licht wird auf den Ursprung der Menschheit und ihre Geschichte fallen.“ (3, S. 570).
Zur Abstammung des Menschen:
„Das bedeutungsvollste Resultat dieses Buches, dass der Mensch von einer niedrig organisierten Form abstammt, wird für viele ein großes Ärgernis sein. Ich bedauere das. Aber es kann schwerlich ein Zweifel darüber bestehen, dass wir von Barbaren abstammen. Mein Erstaunen beim ersten Anblick einer Herde Feuerländer an einer wilden und zerklüfteten Küste werde ich nie vergessen; denn ganz plötzlich fuhr es mir durch den Kopf: so waren unsere Vorfahren. Diese Menschen waren absolut nackt und mit Farbe beschmiert, ihre langen Haare waren durcheinander gewirrt, ihr Mund schäumte in der Erregung, und ihr Ausdruck war wild, erschreckt und misstrauisch. Sie kannten kaum irgend eine Kunst, und gleich wilden Tieren lebten sie von dem, was sie gerade erlangen konnten. Sie hatten keine Regierung und waren erbarmungslos gegenüber allen, die nicht ihrem eigenen kleinen Stamm angehörten. Wer einen Wilden in seiner Heimat gesehen hat, wird sich nicht mehr schämen, anzuerkennen, dass in seinen Adern das Blut noch niedrigerer Kreaturen fließt. Ich für meinen Teil möchte lieber von jenem heroischen kleinen Affen abstammen, der seinen schrecklichen Feind angriff, um das Leben seines Wärters zu retten, oder von jenem alten Pavian, der, von den Höhen herabsteigend, seinen jungen Kameraden im Triumph aus der Mitte einer Hundemeute hinwegtrug, als von einem Wilden, der sich an den Qualen seiner Feinde weidet, blutige Opfer darbringt, ohne Gewissensregung seine Kinder tötet, sein Weib als Sklaven behandelt, keinen Anstand kennt und von dem grässlichsten Aberglauben gejagt wird.“
Aus dem Schlusskapitel von „Die Abstammung des Menschen“ (2).
Doch die Debatte um Darwins Selektionstheorie entzündete sich – Jahre bevor die „Abstammung des Menschen“ erschienen war – am intensivsten um die Frage: Stammt der Mensch vom Affen ab?
Im September 1863 – also 8 Jahre bevor sich Darwin ausführlich dazu äußerte – behauptete Ernst Häckel (1834-1919), der berüchtigte Jenaer „Affenprofessor“, bei einem Vortrag vor der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte:
„Was uns Menschen selbst betrifft, so hätten wir also konsequenterweise, als die höchstorganisierten Wirbeltiere, unsere uralten gemeinsamen Vorfahren in affenähnlichen Säugetieren, weiterhin in känguruhartigen Beuteltieren, noch weiter hinauf in der sogenannten Sekundärperiode in eidechsenartigen Reptilien, und endlich in noch früherer Zeit, in der Primärperiode, in niedrig organisierten Fischen zu suchen.“ (8, S. 98).
Die „Affen-Frage“ ist also falsch gestellt. Niemand behauptet, dass der Mensch vom Affen abstamme, sondern Darwin und seine biologisch gebildeten Zeitgenossen gingen davon aus, dass Mensch und Affe gemeinsame Vorfahren hatten. Aber die Affenabstammung war und blieb noch lange das Reizwort in vielen, oft wenig fundierten Debatten.
Am betroffendsten reagierten Priester und konfessionsgebundene Menschen. Für sie war es auf keinen Fall hinnehmbar, dass die „Wahrheiten der Heiligen Schrift“ von Naturwissenschaftlern hinterfragt, und der Vorrang der Religion gegenüber der Wissenschaft bezweifelt wurde.
Schwächen der Selektionstheorie
Viele Fragen zur Evolution waren – und sind teilweise noch heute – ungeklärt. Darwin-Kritiker konnten also auf Lücken in den Hypothesen hinweisen.
So wusste damals niemand, wie die vielen, für die Evolution unentbehrlichen Variationen zustande kommen sollten; von den aus heutiger Sicht so wichtigen Mutationen wusste man noch nichts. Die „Vererbung erworbener Eigenschaften“ war eine fast selbstverständliche Voraussetzung für das Funktionieren der Selektion.
Darwin selbst war sich bewusst, dass vieles noch offen war, konnte aber darauf hoffen, dass andere Forscher in der Lage sein würden, nach und nach die Lücken zu schließen.
Er selbst sprach schon ein Problem an, das bis heute diskutiert wird:
„Ließe sich irgend ein zusammengesetztes Organ nachweisen, dessen Vollendung nicht durch zahlreiche kleine aufeinanderfolgende Modifikationen hätte erfolgen können, so müsste meine Theorie unbedingt zusammenbrechen. Ich vermag jedoch keinen solchen Fall zu finden.“ (3, S. 229).
Hier setzen heute Vertreter des „Intelligent Design“ („Ein konstruiertes Universum“, unter „Wissenschaft“) an, um mit Darwins eigenen Gedanken die Selektionstheorie zu widerlegen .
Die Oxford-Debatte am 30. 6. 1860
In dieser bekannten Diskussion prallten die Standpunkte von Naturwissenschaft und Religion heftig auf einander:
Der viel zitierte Höhepunkt war eine Frage des Bischofs von Oxford, Samuel Wilberforce (1805-1873), an Thomas Henry Huxley (1825-1895), den wortgewandten, schlagfertigen Verteidiger der Selektionstheorie: Stamme er (Huxley) „lieber großväterlicherseits oder großmütterlicherseits vom Affen ab“? Huxley antwortete, „er würde es vorziehen, von einem Affen abzustammen, als von einem Mann, der Macht, Fähigkeiten und Einfluss nur dazu nutzt, eine ernsthafte wissenschaftliche Diskussion ins Lächerliche zu ziehen“.
Eine Dame fiel in Ohnmacht. Der bibeltreue Fitz-Roy, einst Darwins Kapitän auf der Beagle, schwenkte fassungslos eine Bibel über dem Kopf und beschwor die Anwesenden, Gott mehr zu glauben als den Menschen.
Huxley hatte gewonnen.
(http://www.dpz.gwdg.de/web/hominiden/pdf.1_3_darwin.pdf).
Wissenschaft, Religion und Ethik
Darwin war von Haus aus ein religiöser, gottgläubiger, gütiger Mensch. Allerdings stimmte er nicht mit den Aussagen der Bibel und den Lehren seiner Kirche überein (Teil 1 „Darwins Reise zur Erkenntnis“).
Seine Evolutionslehre hat das religiöse Bewusstsein vieler Menschen des 19. Jahrhunderts verändert, doch es war kaum in seinem Sinne, dass die Selektionstheorie von antireligiösen Kreisen – wie Materialisten und Kommunisten – aufgegriffen und auf atheistische, religionsfeindliche und menschenverachtende Weise interpretiert wurde. Dabei wurden aus den Naturbeobachtungen entschieden zu weit gehende Schlussfolgerungen gezogen und auf die menschliche Gesellschaft und ihr soziales Zusammenleben ausgedehnt.
Nicht alle Darwin-Kritiker waren engstirnige, religiöse Fundamentalisten, die alles Neue grundsätzlich verteufelten, sofern es ihrer religiösen Überzeugung widersprach. Einige sahen die Möglichkeit einer Erosion moralischer Werte, den zu befürchtenden Niedergang der christlichen Ethik, wenn das „Gesetz des Dschungels“ auf die menschliche Gesellschaft übertragen würde.
Wie wir zeigen müssen (Teil 4 „Das Gesetz des Dschungels“), waren solche Befürchtungen nicht unbegründet.
Konnte Darwin die Exzesse des „Sozialdarwinismus“ vorhersehen? Darf man ihn für unselige Entwicklungen des 20. Jahrhunderts mitverantwortlich machen?
Fortsetzung Teil 4.
Literatur:
(1) Clark Ronald W., Charles Darwin, Fischer, Frankfurt 1984.
(2) Darwin Charles, Die Abstammung des Menschen, Kröner, Stuttgart, 1966.
(3) Darwin Charles, Die Entstehung der Arten, Schweizerbart, Stuttgart, 1867.
(4) Darwin Charles, Die Fahrt der Beagle, marebuch, Hamburg, 2006.
(5) Grün Johannes, Die Schöpfung ein göttlicher Plan, Verax, CH-7537 Müstair/GR, 2000
(6) Huxley, Thomas Henry, Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur“, Gustav Fischer, Stuttgart, 1963.
(7) Schmitz Siegfried, Charles Darwin – ein Leben, dtv, München, 1982.
(8) Schmitz Siegfried, Charles Darwin, Hermes Handlexikon, ECON, Düsseldorf, 1983.
(9) http://www.harunyahya.com/de/darwinismus03.php.
(10) http://science.orf.at/sciende/news/93245