(Veröffentlich in GralsWelt 14/2000)
Gescheiterte Entwicklungshilfe, abgewirtschafteter Kommunismus: Liegt der Zukunftsglaube im Islam?
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden die zerstörten Städte in Europa wie in Fernost schneller wieder aufgebaut als erwartet. So begann eine Zeit der Hoffnung: Die Weltwirtschaft entwickelte sich, und alles schien mit Technik und Demokratie machbar. Denn es gab keineswegs nur ein deutsches „Wirtschaftswunder“; sondern auch der Aufstieg Japans oder die rasante Entwicklung Südkoreas nach dem Koreakrieg (1953) schienen alle optimistischen Prognosen zu bestätigen.
Dieser Optimismus war nicht auf die „kapitalistische“ Welt beschränkt. Auch jenseits des „eisernen Vorhanges“ waren die Menschen überzeugt, dass ihnen der Aufbau ihres Landes und der Schritt in eine bessere Zukunft gelingen werde.
Ich rufe Wehe über diese Welt:
Ich rufe Wehe, weil sie mir gefällt;
ich rufe dreimal Wehe, weil sie, grausam,
was sie verspricht, dem Hungernden nicht hält.
Paul de Lagarde (1827-1891)
Im globalen Maßstab gab es dennoch große Verwerfungen: In vielen Ländern der „Dritten Welt“ – meist auf der südlichen Hemisphäre angesiedelt – herrschte die bitterste Armut, und ein „menschenwürdiges Leben“ (was immer man darunter verstehen mag) schien für die Armen der Welt weit, weit entfernt.
Hier setzte der große Gedanke der Entwicklungshilfe an. Die Industrieländer – besonders, aber nicht ausschließlich, die des Westens – wollten den unterentwickelten Nationen des Südens mit Know-how und Kapital beistehen, um Unwissenheit, Krankheit, Armut zu „bekämpfen“ und vernachlässigten Menschen selbst in vergessenen Regionen eine bessere Zukunft zu eröffnen. Leider ist dieses Ziel der „Hilfe zur Selbsthilfe“ oft unerreicht geblieben, und viele Länder der Erde sind heute ärmer als vor einem halben Jahrhundert.*)
Wo auch die Entwicklungshilfe das Los der Armen nicht bessern konnte, wo trotz aller Versprechungen der Politiker sich die wirtschaftliche Lage sogar noch verschlechterte meist weil die Bevölkerung schneller wuchs als die Wirtschaft, dort versprachen marxistische Ideologen das Ende von Ungerechtigkeit und Misswirtschaft, sofern nur – nach dem Vorbild der Sowjetunion – ein sozialistischer Staat errichtet würde.
Seit der russischen Revolution im Jahre 1917 wurde der Kommunismus zur Hoffnung der Armen der Welt; zur Sehnsucht der unterentwickelten oder unterdrückten Völker, die sich – zu Recht oder zu Unrecht – von Kapitalisten ausgebeutet fühlten und nach einer gerechteren, ihre Bedürfnisse besser berücksichtigenden Weltordnung verlangten.
In nicht wenigen Ländern fanden entsprechende Parolen ideologischer Propagandisten Anklang. China, Nordkorea, Vietnam, Kuba, Venezuela und viele weitere Staaten bekannten sich zum Sozialismus. Ähnlich der Sowjetunion und dem von ihr dominierten Ostblock, versuchten auch diese Länder, die von den Gründervätern der kommunistischen Bewegung gewiesenen Wege zu gehen. Wie wir heute wissen, mit negativem wirtschaftlichem und sozialem Ergebnis.
Die Hoffnung auf den Sozialismus als Retter ist spätestens seit 1989 zusammengebrochen. Der gewaltige Großversuch, in dem hunderte von Millionen Menschen zum Kommunismus erzogen werden sollten, ist nach sieben Jahrzehnten gescheitert. Das Sowjetsystem erwies sich als untauglich, das Armutsproblem zu lösen. Offensichtlich eigneten sich die marxistischen Theoreme weder zum Aufbau einer florierenden Wirtschaft noch zur Erziehung des Menschen. Diese Erkenntnis ist für manchen „linken“ Idealisten schmerzlich, doch lässt sie sich nicht länger leugnen oder verdrängen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass es sich beim Marxismus um eine „ökonomische“ Theorie handelt, und der praktizierte Sowjet‑Sozialismus ausgerechnet an seiner total verrotteten Ökonomie zugrunde gegangen ist.
Von besonderer Bitterkeit ist der Zusammenbruch des sowjetischen Sozialismus für die Armen der Welt. Ihre einzige, die vielleicht letzte Hoffnung war die Erwartung einer kommenden sozialistischen Ordnung, die ihnen endlich Gerechtigkeit und bescheidenen Wohlstand bringen sollte. Diese Zukunftshoffnung ist zerschlagen, und viele stehen ratlos vor dem anscheinend absoluten Sieg der „kapitalistischen“ oder „marktwirtschaftlichen“ Wirtschaftsweise, die sich gegenüber der vom Staat gelenkten Wirtschaft als haushoch überlegen erwies. Ist aber der von vielen Menschen zu Recht ungeliebte Extrem‑Kapitalismus die ultima ratio?
In verschiedensten Ländern wird versucht, die durch den Niedergang der marxistischen Ideologie aufgerissene Lücke mit einer anderen Weltschau zu schließen: dem Islam. In Europa wird gerne vom „fundamentalistischen“ Islam gesprochen, sobald wir von religiösen Eiferern hören, welche alle Probleme mit dem Koran und der Scharia**) zu lösen versprechen; eine Verheißung die mittelalterlich anmutet.
Doch was uns überholt scheinen mag, was unter Mitteleuropäern kaum viele Anhänger mobilisieren könnte, wirkt auf Arme und Benachteiligte in islamischen Ländern oft überzeugend. Diese sehnen sich nach einer gerechten Weltordnung, und wer sonst könnte eine solche Ordnung schaffen, wenn nicht ein gottgesandter Prophet?
Eine möglicherweise bevorstehende geistige Auseinandersetzung des sich „christlich“ nennenden Westens mit dem Islam wird dann schwieriger werden als die Kontroverse mit dem Sozialismus. Der Islam bietet eine in Jahrhunderten entwickelte Theologie auf der Basis einer von den Muslimen als gottgegeben anerkannten Offenbarung, die sich mit philosophischen Mitteln kaum angreifen oder gar widerlegen lässt.
Zudem haben wir allen Grund, die Sehnsüchte Benachteiligter ernst zu nehmend, aber wenig Anlass, uns über den Islam – ob fundamentalistisch oder vertieft‑religiös – zu erheben. Die Lücken, in die er vorstößt, hat nicht allein der Zusammenbruch der sozialistischen Ideologien aufgerissen.
Westliche Politik hatte über viele Jahrzehnte größten Einfluss auf die Mehrzahl der islamischen Länder. Doch die Politiker der westlichen Welt konnten dort so wenig überzeugen, wie das von Europäern und Amerikanern praktizierte Christentum. Kein Wunder, dass heute die Entwicklungsländer vom Abendland, von Europa, von Amerika oder von der UNO keine wahre Hilfe, keine geistigen Vorbilder erhoffen. Also greifen sie zurück auf ihre eigenen Traditionen, auf angestammte Religionen, um endlich die Gerechtigkeit zu finden, die ihnen bisher von den verschiedensten Machthabern verweigert wurde.
So werden aller Voraussicht nach die islamischen Länder ihre eigenen Wege suchen, deren Richtung auch davon abhängen wird, in wie weit fundamentalistische Prediger die Massen begeistern und neue Anhänger des Propheten gewinnen.
Ob die in Kultur und Geschichte durchaus verschiedenen islamischen Staaten sich zusammenschließen zu einem Block der Muslime oder zu mehreren islamischen Gruppierungen, bleibt offen; sicher scheint allerdings, dass sie die Zukunft anders gestalten, bessere Problemlösungen finden wollen, als der Westen.
Der Weg islamischer Völker in ihre Zukunft wird sich daher von dem Weg des Okzidents aller Voraussicht nach ebenso deutlich unterscheiden, wie von den Wegen der aufstrebenden Staaten Ostasiens. Ob in islamischen Ländern die Scharia den Bedürfnissen der Armen und Entrechteten besser gerecht werden kann als andere religiöse, politische, ideologische Ansätze, wird sich dann wohl erweisen. –
Lesen Sie dazu noch unter „Buchbesprechungen“ den Beitrag „“Krieg der Religionen„, und unter „Wirtschaft und Soziales“ den Beitrag „Die Intelligenz tickt links“.
Endnote:
*) Zur gescheiterten Entwicklungshilfe in Afrika lesen Sie in „Welche Apokalypse kommt?“ die Endnote [v] unter „Ökologie“.
**) Scharia (Scheria) ist das religiöse Gesetz des Islams. Es wird von der Vorstellung der Identität von Staat und Religionsgemeinschaft bestimmt und ist staatliches und religiöses Recht zugleich. Die Scharia wird auf Gott als Oberhaupt und obersten Gesetzgeber zurückgeführt.