(Veröffentlicht in GralsWelt 2/1997)
Am 23. August 1887 verabschiedete das britische Parlament ein Gesetz, das verlangte, dass bei allen nach Großbritannien eingeführten Waren das Ursprungsland entweder auf der Ware selbst oder auf der Umhüllung anzugeben sei.
Dieses frühe „Verbraucherschutz-Gesetz“ war hauptsächlich gegen Deutschland gerichtet, das seinen Export in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts gewaltig steigern konnte; und zwar nicht nur nach England und in andere europäische Länder, sondern auch nach dem Fernen Osten, den Großbritannien als seinen angestammten Markt ansah.
England – die führende Industrienation
England hatte sich ja im 18. und 19. Jahrhundert einen beachtlichen Vorsprung in Technik und Industrie erarbeitet. Pioniere der Technik wie James Watt (1736 – 1819) und weitschauende Wirtschaftswissenschaftler wie Adam Smith (1723 – 1790) hatten Grundlagen in Theorie und Praxis geschaffen, auf denen sich englische Fabriken, englische Wirtschafts- und Finanzpolitik zum viel beachteten Vorbild für den Rest der Welt entwickeln konnten. Wer im 19. Jahrhundert modernste Technik und fortschrittliche Industrien kennenlernen wollte, der musste nach England reisen.
Beispiele für solche Reisende gibt es genug. Der schwäbische Ingenieur, Schriftsteller und Dichter Max Eyth (1836 – 1906) konnte trotz erstklassiger Ausbildung bei führenden Ingenieurwissenschaftlern am Stuttgarter Polytechnikum in Deutschland keine seiner Qualifikation entsprechende Tätigkeit finden. Er suchte sein Glück in England und reiste schließlich im Dienst eines englischen Landmaschinen-Herstellers um die Welt.
Friedrich Engels (1820 – 1895), Fabrikantensohn aus Engelskirchen unweit von Köln, sollte in England das Modernste vom Modernen der Textil-Industrie studieren. Die unerquicklichen Begleiterscheinungen dieser industriellen Pionierzeit – heute als „Manchester-Kapitalismus“ verfemt – schreckten ihn dann so sehr ab, dass er zusammen mit Karl Marx (1818 – 1883) zum Mitverfasser des „Kommunistischen Manifestes“ und einer der Gründerväter der sozialistischen Bewegung wurde. Denn die „Erste industrielle Revolution“ entwickelte sich zunächst oft chaotisch, ungesteuert und ohne die von ihr ausgelösten gesellschaftlichen Umwälzungen ausreichend zu berücksichtigen. –
Deutschland, das damals noch arme und zerrissene Land, hatte den wirtschaftlichen Leistungen der weltweit führenden Briten wenig entgegenzusetzen. Die deutsche Industrie war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch in den Anfängen ihrer Entwicklung. Nur einzelne, meist kleinere Fabriken entstanden, die nur in Ausnahmefällen mit der vorbildlichen englischen Qualitätsware mithalten konnten. Zum Beispiel war es eine von keinem erwartete Sensation, dass Alfred Krupp bei der ersten Weltausstellung im Jahre 1851 für den Stahlguss großer Stücke die höchste Auszeichnung erhielt.
Am Rückstand der deutschen Industrie änderte auch die Gründung des Zweiten Deutschen Kaiserreiches im Jahre 1871 zunächst nicht viel. Erst der Aufschwung der „Gründerjahre“ gegen Ende des 19. Jahrhunderts bescherte der deutschen Industrie ihren ersten großen Boom, der nicht allein zur Ausweitung der Produktion, sondern besonders zu tiefgreifenden Qualitätsverbesserungen genützt wurde.
Deutschland holt auf
Das in Deutschland als diskriminierend empfundene britische Gesetz wurde zum Ansporn für die deutsche Industrie. Deutsche Erzeugnisse wollten sich an den besten Produkten der Welt messen und nach Möglichkeit besser sein als die Konkurrenz.
Was schließlich erreicht wurde, wissen wir alle: Auf deutschen Hochschulen ausgebildeten Wissenschaftlern, Chemikern, Ingenieuren gelang es, den alten deutschen Handwerksstolz in die industrielle Produktion zu tragen und aus dem ursprünglich als Abwertung gedachten „Made in Germany“ ein weltweit anerkanntes Qualitätssiegel zu schaffen.
Seither galt das „Made in Germany“ als Wert- und Qualitätssiegel schlechthin, es wurde zum Inbegriff deutschen Fleißes, deutscher Tüchtigkeit. Nicht zuletzt verdankt das nach dem Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstörte Deutschland seinen wirtschaftlichen Aufstieg – gerne als „Wirtschaftswunder“ mit Ludwig Erhard (1897 – 1977) in Verbindung gebracht – auch dem Nimbus des weltbekannten „Made in Germany“.
Und heute?
Nach einem knappen Jahrhundert des besten und erfolgreichsten Markenzeichens aller Zeiten – Made in Germany -, unter dem Deutschland zur größten Exportnation der Welt aufstieg, werfen wir dieses Qualitätssymbol fast verschämt kurzerhand über Bord, ohne viel darüber nachzudenken, was wir damit verlieren. Eine im heutigen, globalen Umfeld unvermeidbare Entwicklung? Oder der Ausdruck kurzsichtiger Management-Entscheidungen, die vor lauter betriebswirtschaftlichen Zwängen des Augenblicks die langfristigen volkswirtschaftlichen Interessen übersehen?
Von deutschen Automobilfabriken kann man ganz ungeniert hören: „Unser Qualitätsstandard heißt heute ,Made by Mercedes (oder BMW usw.)'“ Oder man spricht von „German Egineering“.
Wer heute ein deutsches Auto kauft, kann nicht mehr erwarten, dass sein neues Fahrzeug zum größten Teil aus deutschen Teilen besteht oder wenigstens in Deutschland gefertigt wurde. „Global sourcing“ oder „outsourcing“*) heißt das neue Schlagwort: Rohmaterialien, Vorprodukte, ganze Baugruppen werden irgendwo in der Welt beschafft; wer immer die Spezifikationen der Konzerne erfüllt, darf liefern, sofern er preisgünstig anbieten kann. Stahl aus Indien, Reifen aus Korea, Motoren aus Ungarn – so gut wie alles kann sich in den Produkten großer deutscher Namen finden. Ganze Fabriken werden in Billiglohnländer verlagert, und von deutscher Qualitätsarbeit und deutscher Zuverlässigkeit ist kaum noch die Rede. Der Vorsprung gegenüber anderen, nicht selten exotischen Ländern ist zusammengeschrumpft, und oft genug muss man hören, dass andere – besonders in Asien – fleißiger arbeiten, geringere Ansprüche stellen, kaum krank feiern und nicht weniger zuverlässig sind.
Allerdings nehmen auch die Rückrufe von defekten oder mit Produktionsfehlern behafteten Geräten zu, was nicht nur die Folge steigenden Verantwortungsbewusstseins der Hersteller und schärferer Produkt-Haftpflichtgesetze sein muss.-
Das Ende einer Ära
Die Ära des „Made in Germany“ geht allem Anschein nach unaufhaltsam zu Ende, und die Deutschen bemerken das nicht einmal.
Der einst vielgerühmte deutsche Facharbeiter ist plötzlich nicht mehr gefragt; er wird reihenweise arbeitslos und versteht die Welt nicht mehr.
Technisches Know-how und wirtschaftliches Wissen sind weltweit verfügbar, und das internationale Kapital fließt dorthin, wo die höchsten Renditen erwartet werden. Sogar die einst sprichwörtlichen „deutschen Tugenden“ (Fleiß, Zuverlässigkeit, Sparsamkeit) finden sich heutzutage angeblich häufiger in Ostasien als in Old Germany.
Ist also die durch die Mikroelektronik und das Informationszeitalter eingeleitete „Dritte industrielle Revolution“ auf dem Weg, ihre Kinder (die klassischen Industrie-Länder) zu fressen? Werden mehr und mehr Entwicklungsländer zu konkurrenzfähigen Industrie-Ländern? Zerstören Hunderte von Millionen billiger Arbeitskräfte den Wohlstand der „reichen Länder“?
Für eine Antwort auf diese Fragen ist es noch zu früh. Allerdings wird Deutschland und Europa ein Umdenken, Umorientieren, nicht erspart bleiben. Denn die „Dritte industrielle Revolution“ verläuft nicht unähnlich der „Ersten industriellen Revolution“: nämlich ungelenkt, manchmal chaotisch und vielleicht auch ganz unerwartet in eine Richtung, die noch keiner kennt.
Prognosen sind dementsprechend schwierig, und die von Politik, Wirtschaft, Gewerkschaften angebotenen Rezepte passen meist besser zu der augenblicklichen Interessenlage der jeweiligen gesellschaftlichen Gruppe als zu den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts.
Endnote:
*) Global sourcing = Erschließen von Lieferquellen weltweit. Outsourcing = Verringerung der Fertigungstiefe durch Verlagern möglichst vieler Produktionsprozesse zum Lieferanten. So strebt die Autoindustrie z.B. an, statt mit einigen tausend nur noch mit weniger als hundert Lieferanten zusammenzuarbeiten, die jeweils komplette Baugruppen liefern.