(Veröffentlicht in GralsWelt 58/2010)
In der europäischen Geschichte ist der 29. Mai 1453 ein wichtiges Datum. Damals eroberten die Türken Konstantinopel und schnitten mit dieser Aktion Europa ab vom Handel mit Asien. Venedig verlor seine führende Stellung als Zentrum des Seehandels. Portugiesen und Spanier sahen sich gezwungen, ihre Bemühungen zu verstärken, das vom Türkischen Reich beherrschte Mittelmeer zu umgehen, und über den Atlantik nach Indien zu gelangen. Daher suchte Kolumbus einen westlichen Seeweg nach Asien, landete aber 1492 in der Karibik, die er „Westindien“ nannte. Vasco da Gama segelte mit gleichem Ziel rund um Afrika und erreichte 1498 Calicut (Indien).
Diese Entdeckungsreisen waren der Startschuss für den Kolonialismus. Dieser brachte große Verwerfungen in den ökonomischen und sozialen Bedingungen, sowohl der Kolonisatoren als auch der Kolonisierten. Die mittelalterliche Weltordnung löste sich auf. Mit den neuen Verhältnissen kamen viele, bis heute ungelöste Fragen nach der menschlichen Gerechtigkeit: Aneignungsgerechtigkeit, Verteilungsgerechtigkeit, Chancengerechtigkeit, Ergebnisgerechtigkeit, Verfahrensgerechtigkeit, soziale Gerechtigkeit[i], usw, usw.
Es ist nicht schwer Zustimmung zu finden, wenn man beklagt, dass es in der Welt „ungerecht“ zugehe. Wer aber schließt wann und wie die viel kritisierte „Gerechtigkeitslücke“, die wirtschaftliche Kluft zwischen ehemaligen Kolonialvölkern und Industrieländern, zwischen Nord und Süd, zwischen Armen und Reichen? Und wer denkt dabei auch an die Belange der Natur?
Die Probleme, die es in der Welt gibt, sind nicht mit der gleichen Denkweise zu lösen, die sie erzeugt hat.“
Albert Einstein angesichts der Wirtschaftskrise von 1929.
Das Zeitalter des Kolonialismus
Immer neue Entdeckungen veränderten vom 15. Jahrhundert an das Bild der Welt. Navigatoren, Forscher, Abenteurer machten sich auf die Suche nach dem Reichtum fremder Länder, und risikofreudige Kaufleute finanzierten die ebenso gewagten, wie im Erfolgsfall lukrativen Entdeckungsreisen. (Vgl. „Kurz, knapp, kurios“, Seite 332, „Entdecken, Flagge hissen, in Besitz nehmen“).
Ungeahnte Schätze flossen nach Europa und später auch in die USA: Gold und Silber aus Südamerika; Gewürze aus Indien; Zucker und Rum aus der Karibik; Kaffee aus Brasilien; Porzellan und Tee aus China; Elfenbein und Sklaven aus Afrika; Pelze aus Nordamerika und Sibirien.
Die seefahrenden Nationen machten sich nach und nach große Teile der weiten Welt untertan. Europa konnte seinen Bevölkerungsüberschuss nach Übersee entlassen. Die in den Kolonien einheimische Bevölkerung wurde zur Arbeit für die Eroberer gezwungen, musste Siedlern aus Europa weichen, oder wurde – wenn sie infolge der Ausbeutung oder durch eingeschleppte Krankheiten am Aussterben war – durch Sklaven aus Westafrika ersetzt.
„Der ‚Aufstieg des Westens’ beruhte in hohem Maße auf der Anwendung von Gewalt, darauf, dass sich das militärische Gleichgewicht zwischen den Europäern und ihren Gegnern in Übersee zugunsten der ersteren verschoben hatte.“ (4, S. 22).
Nur wenige der Weißen hatten ein schlechtes Gewissen, wenn sie fremde Länder ausraubten oder in Besitz nahmen, die Eingeborenen durch Unterdrückung oder aus Europa eingeschleppte Krankheiten zu Grunde gingen. Denn den „unwissenden Heiden“ wurde ja das größte aller Geschenke gebracht: Sie wurden (oft zwangsweise) christlich getauft und damit der sonst für sie unausweichlichen ewigen Verdammnis entrissen! War das ein gerechter Ausgleich, durch den sich ein christliches Gewissen ruhig stellen ließ? Oder hätte man besser bei Augustinus[ii] nachgelesen, der meinte, Gerechtigkeit sei das, was eine Gesellschaft von einer Räuberbande unterscheidet?
Bis ins 20. Jahrhundert (teilweise noch heute!) gab es Missionsgesellschaften, die Menschen in Übersee – darunter Angehörige von sehr alten Kulturnationen – zum Christentum bekehren wollten, um sie vor der Hölle zu retten.
Von exotischen Kulturen verstanden die aus Europa, später auch aus den USA entsandten Priester in der Regel so gut wie nichts. Es genügte ihnen zu wissen, dass jede nicht-christliche Religion vom Teufel war. So dachten sie kaum an einen „gerechten Ausgleich zwischen Geben und Nehmen“, rechtfertigten die Sklaverei mit passenden Bibelstellen[iii], und betrachteten die Eingeborenen – selbst wenn sie zum Christentum bekehrt waren – als Menschen zweiter Klasse.
Falls Europäer je die Aufgabe hatten, als Verbreiter christlicher Werte zu wirken, dann haben sie versagt. Wohl haben sich einzelne Missionare bemüht, im christlichen Sinne zu wirken. Doch auf jeden von ihnen kamen Dutzende oder Hunderte von Händlern, Abenteurern, Kolonisten, die sich zwar Christen nannten, deren Verhalten aber eher von der Hölle als vom Geist Christi inspiriert war.
Die klassische Weltwirtschaft
Im Zuge des Kolonialismus entwickelte sich die Weltwirtschaft. Europa – besonders Kolonial-Imperien wie England –, später auch die USA und schließlich Japan, wurden reich, weil sie die Schätze fremder Länder zu nutzen wussten.
Der Wohlstand der Industrieländer kommt noch heute zum großen Teil dadurch zustande, dass aus den früheren Kolonien, die inzwischen Entwicklungsländer sind, Rohstoffe billig importiert und dafür Fertigprodukte teuer exportiert werden.
Dabei wird oft übersehen, dass spätestens seit dem 20. Jahrhundert auch Umweltlasten in großem Maße abgeschoben werden. Bei den Lieferanten in Übersee entstehen gewaltige Umweltschäden durch die Exploration von Rohstoffen, sowie durch landwirtschaftliche Monokulturen im Interesse der Industrieländer. Für die Klimaänderung durch zu großen Verbrauch fossiler Brennstoffe sind in erster Linie die Industrieländer verantwortlich, doch darunter leiden werden besonders Entwicklungsländer.
Eine solche, auf Einseitigkeit gebaute Weltwirtschaft kann weder gerecht noch stabil sein. Jahrhunderte lang genügte die technische Überlegenheit, die bessere Bewaffnung der hoch entwickelten Länder, um Freiheitsbestrebungen in den Kolonien zu unterdrücken.
Dann zerstörten die Länder, die am meisten von den ökonomischen Unausgewogenheiten profitierten, dieses System selbst: Die Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts, der leichtfertig ausgelöste Erste Weltkrieg, leitete den unaufhaltsamen Untergang des Kolonialismus ein.
Anders als nach den Napoleonischen Kriegen scheiterten die Europäischen Staaten nach dem Ersten Weltkrieg an der Aufgabe, eine stabile Friedensordnung zu schaffen. Diese Versäumnisse bedingten den Zweiten Weltkrieg und führten zu teilweise bis heute anhaltenden politischen und wirtschaftlichen Spannungen sowie weiteren Kriegen. Europa verlor seine Führungsrolle in der Welt und seine Kolonien. Die USA wurden zur dominierenden Weltmacht.
Aufbau einer friedlichen Völkergemeinschaft
Den Großkatastrophen der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts folgten Ansätze für eine bessere, friedlichere, gerechtere Welt.
Nach dem Ersten Weltkrieg scheiterte der Völkerbund am Egoismus nationalistischer Staaten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg sollte die UNO friedenssichernd wirken und für alle Nationen verbindliche Maßstäbe setzen. Die Charta der Vereinten Nationen basiert auf der Philosophie der Aufklärung, nicht mehr auf der Bibel. Anscheinend hat das einst von Europa aus in der ganzen Welt propagierte Christentum seine Glaubwürdigkeit verloren. Die Philosophie der Aufklärung ist zwar im christlichen Umfeld entstanden, übernimmt aber, neben christlichen Vorstellungen, auch antike und neuzeitliche Philosophien, die von den Kirchen lange erbittert bekämpft wurden.
Dabei ist nicht davon auszugehen, dass diese europäische Philosophie in nicht-westlich geprägten Staaten – z. B. in islamischen Ländern oder in Asien – uneingeschränkte Zustimmung findet.
Auch handeln die Nationen – trotz UNO – noch immer vorwiegend im Eigeninteresse, und nicht selten gilt zwischen den Staaten das Faustrecht, nicht das Völkerrecht. Ein Bewusstsein der globalen Verantwortung für das Wohlergehen aller Bewohner unseres Planeten wird schmerzlich vermisst, und der Gedanke, dass auch die Natur Rechte hat, bleibt vielen Verantwortlichen fremd.
Die Globalisierung
Das fehlende Verantwortungsbewusstsein zeigt sich auch in der seit einigen Jahrzehnten gepriesenen „Globalisierung“, die nach dem Motto „a rising tide will lift all boats“ (eine steigende Flut hebt alle Boote) Wirtschaftswachstum und steigenden Wohlstand für alle verspricht.
Tatsächlich ist die Kluft zwischen Arm und Reich – sowohl zwischen den Nationen wie auch innerhalb der Staaten – gestiegen. Von einem Ausgleich zwischen den Rechten Bevorzugter und den Belastungen Benachteiligter, also dem Schließen der „Gerechtigkeitslücke“, keine Spur.
Das ist kaum überraschend. Denn die Globalisierung sollte – aller Propaganda zum Trotz – keinem altruistischen Zweck dienen.
Unsere Wirtschaft nennt sich kapitalistisch, ist also auf Geld-Kapital gebaut. Kapital muss verzinst werden. Die aufzubringenden Zinsen verlangen gebieterisch eine wachsende Wirtschaft!
Nun ist spätestens seit dem ersten Erdölschock in den 70er Jahren abzusehen, dass die nötigen Wachstumsraten in den Industrieländern nicht zu erzwingen sind. Dort ist der Bedarf weitgehend gesättigt, die Bevölkerung wächst nur noch wenig. In einigen dieser Länder ist die Bevölkerung überaltert und nimmt ab. Wer soll dann jedes Jahr mehr und mehr von dem ganzen Krempel kaufen, den die Industrie loswerden muss, um weiter zu wachsen?
Da bleibt nur der Weg in die Entwicklungsländer. Dort steigen die Bevölkerungszahlen, ein riesiger Nachholbedarf will befriedigt werden. Gelingt es, diese Länder zu erschließen, dann kann die Weltwirtschaft noch weitere Jahrzehnte ungebremst wachsen – bis zum ökologischen Kollaps.
Dummerweise hat man sich mit diesen grandiosen Zukunftsaussichten für die Exportwirtschaft in den USA und Westeuropa verrechnet. Denn zu viele Eliten unterentwickelter Länder haben im Westen studiert. Sie kennen die moderne Ökonomie und wissen, dass mit Rohstoffexporten nicht viel zu verdienen ist. Daher wollen die Entwicklungsländer in zunehmendem Maße selbst Fertigprodukte herstellen.
Die Weltmarktintegration läuft aus dem Ruder
Nachdem der iranische Ministerpräsident Mossadegh 1951 die Anglo-Iranian-Oil verstaatlicht hatte, wurde er 1953 mit Hilfe der CIA[iv] gestürzt. Danach gab es neue Erdöl-Verträge für den Westen.
Auch dem Schah wurde vielleicht weniger seine korrupte Misswirtschaft zum Verhängnis. Eine nicht zu vernachlässigende Ursache für seinen Sturz im Jahr 1979 sehen manche in der erneuten Verstaatlichung der Erdölindustrie (1973), und dem Versuch, eine eigene chemische Industrie aufzubauen.
Damals glaubte der Westen noch, er müsse sich den Ausstieg eines „Entwicklungslandes“ (in diesem Fall einer Kulturnation, die älter ist als die meisten europäischen Staaten) aus der von den einstigen Kolonialmächten diktierten Weltwirtschaft nicht gefallen lassen.
Heute bauen die größten Staaten der Erde, die beiden Atommächte China und Indien, riesige Industrien auf, die – z. B. in der Textilindustrie oder der Stahlerzeugung – einst führende alte Industrieländer längst abgehängt haben. Und mit traditionellen Produkten sind die Newcomer nicht zufrieden, sondern sie wollen die Weltmärkte auch mit High-Tech und Automobilen überschwemmen.
Das Ende der westlichen Vormachtstellung ist eingeläutet. Bringen diese dramatischen Umwälzungen mehr Gerechtigkeit?
Die Torheit der Regierenden
Zweimal in einem Jahrhundert haben es westliche Industrienationen fertig gebracht, das ungerechte Wirtschaftssystem, mit dem sie reich und mächtig wurden, selbst in Schwierigkeiten zu bringen. Dabei waren sie kaum von dem Verlangen nach mehr Verteilungsgerechtigkeit geleitet. Fast möchte man glauben, sie hätten einem unbewussten „Zwang zur Selbstzerstörung“ nachgegeben:
* Zuerst mit dem ebenso unnötigen, wie leichtfertig ausgelösten Ersten Weltkrieg, dessen Folgen die Weltpolitik bis heute destabilisieren.
* Dann mit der Globalisierung, die auf bestem Wege ist, die Vorrangstellung westlicher Industrie und westlicher Technologie zu beenden.
In der zweiten Hälfte des 21. Jahrhundert werden die Schwellenländer China und Indien voraussichtlich zu Großmächten, welche die Weltwirtschaft und damit unvermeidlich auch die Weltpolitik dominieren.
Die Aufsteiger Asiens, zu denen neben China und Indien weitere Länder wie Japan, Korea, Taiwan, Singapur usw. gehören, haben wenig Grund, sich gegenüber Europa und den USA aus historischen Gründen dankbar zu erweisen. Ihr Ehrgeiz wird sie anstacheln, dem Rest der Welt zu zeigen, aus welchen Regionen die ältesten Kulturen stammen, und wo die begabtesten und fleißigsten Menschen zuhause sind. Kaum zu erwarten, dass sie es bedauern, wenn Millionen Arbeitsplätze aus den reichen Ländern nach Asien abwandern, oder gar den klassischen Industrieländern Verarmung droht.
Wahrscheinlich halten es viele Asiaten für ausgleichende Gerechtigkeit, wenn die Weißen die Wechselwirkung für ihre Untaten zur Zeit des Kolonialismus zu spüren bekommen.
Wachstum auf Kosten der Natur?
Der Biologe und Ökologe Paul Ehrlich (geb. 1932) hat in einem Gespräch mit einem japanischen Journalisten argumentiert, die Walfangindustrie Japans rotte mit den Walen doch die Quelle ihres eigenen Wohlstandes aus. Die Antwort des Journalisten:
„‚Sie halten die Walfangindustrie zu Unrecht für eine Organisation, die am Erhalt der Wale interessiert sei. In Wahrheit stellt sie aber eine riesige Kapitalpotenz dar, die versucht, die höchstmöglichen Gewinne zu erzielen. Wenn sie innerhalb von zehn Jahren die Wale ausrotten kann und dabei 15 Prozent Gewinn erzielt, während bei einer nachhaltigen Fangrate der Gewinn nur 10 Prozent beträgt, dann wird man selbstverständlich die Wale in zehn Jahren ausrotten – und danach das Kapital eben zur Ausbeutung einer anderen Ressource verwenden.’
Ein völlig entsprechendes Argument hat einer unserer Freunde von einer Firma zu hören bekommen, die in Sabah tropische Nutzhölzer einschlägt“.
Aus Donella + Dennis Meadows/Jorgen Randers, „Die neuen Grenzen des Wachstums“, Rowolt, Reinbeck, 1998, S. 226 f.
Die fragliche Aufholjagd
Es gehört zum unentbehrlichen Glaubensbekenntnis politischer Ideologen, dass Verteilungsgerechtigkeit durch Wachstum geschaffen wird, und zwar national wie global. (Vgl. „Mehr, immer mehr, noch mehr…„). Bei wirtschaftlichem Aufstieg soll sich das Armutsproblem von selbst lösen. Diese Kopplung von Gerechtigkeit an das wirtschaftliche Wachstum ist seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges auch eines der Dogmen der Entwicklungshilfe.
Auf dem Weg der Zusammenarbeit zwischen Nord und Süd sollten durch Wachstum und geeignete Politik die bislang benachteiligten Länder zu den reichen Gesellschaften aufschließen. Das war die unausgesprochene Grundlage des Systems der UNO, die beiden Parteien entgegenkam: Der Norden hoffte auf erweiterte Märkte mit größeren Gewinnchancen, der Süden erwartete Wohlstand und Gleichberechtigung.
Seit die bio-physikalischen Grenzen erkennbar werden (vgl. „Wieviel Mensch verträgt die Erde“; „Warum wir in die Bevölkerungsfalle stolpern“; „Ein vernichtender ‚Fußabdruck“, alle unter „Ökologie“), seit also die Endlichkeit der Biosphäre zu Tage tritt, wird dieser Wachstumsideologie der Boden entzogen. Die Leistungsfähigkeit der Erde reicht bei über sechs Milliarden Menschen nicht zum „Wohlstand für alle“, auf keinen Fall unter den derzeitigen wirtschaftlichen Prämissen:
„Es ist hohe Zeit, das Wohlstandsmodell der Industriemoderne auf den Prüfstand zu stellen. Mehr Gerechtigkeit in dieser Welt ist auf dem Verbrauchsniveau der Industrieländer nicht zu erreichen. Eine Wirtschaftsentwicklung konventionellen Stils, die einer wachsenden Weltbevölkerung insgesamt einen westlichen Lebensstandard bescheren möchte, wird ökologisch nicht durchzuhalten sein. Die dafür benötigten Ressoucenmengen sind zu groß, zu teuer und zu zerstörerisch. Deswegen wird der Kickstart der Schwellenländer in die Industriemoderne voraussichtlich zu einer weiteren Marginalisierung der armen Länder und Zonen und damit zu globaler Apartheid führen, aber auch sie selbst gefährden. Schon heute zieht sich für Dutzende von Perepherieländern die Schlinge weiter zu, weil China mit seiner kolossalen Nachfrage die Weltmarktpreise für Getreide, Erdöl und Eisenerz nach oben drückt. Wer daher das Ziel nicht aus den Augen verlieren will, eine fairere und gerechtere Welt als heute herbeizuführen, wird jene Produktions- und Konsumentenmuster überprüfen, an die sich gegenwärtig die Wohlstandshoffnungen heften.“ (6, S. 44)[v].
Ob mit einer grundsätzlich anderen, einer „gerechteren“ und die Belange der Natur berücksichtigenden Wirtschaftsweise sechs und mehr Milliarden Menschen (bis 2050 wird mit acht bis zehn Milliarden gerechnet) ein menschenwürdiges Auskommen auf unserer Erde finden könnten, ist umstritten. Entsprechende Vorschläge, z. B. von Lovelock (2, S. 217 f. und „Gaias Rache“, unter „Buchbesprechungen“), scheinen eher utopisch. In jedem Fall wird die Zeit zum Gegenlenken knapp.
Ob es uns passt oder nicht: Die Leistungsfähigkeit der Ökosysteme unserer Erde ist begrenzt. Es gibt „Grenzen des Wachstums“ (3) die beachtet werden müssen! Wachstum an einer Stelle verlangt von nun an Rückbau an einer anderen!
Noch hat die offizielle Politik die ökologischen Grenzen nicht wirklich zur Kenntnis genommen. Nach wie vor gelten ökonomisches Wachstum und Weltmarktintegration (Globalisierung) als einziger Weg zu mehr Gleichheit und damit Gerechtigkeit zwischen den Nationen, und weniger Armut innerhalb der Nationen.
Die Entwicklungsländer werden nicht bereit sein, mit ihrer teilweise rasant steigenden Bevölkerung auf ihrem jetzigen, bescheidenen Niveau zu verharren, damit die Bevölkerung der reichen Länder weiterhin ihren Luxus genießen kann. Die Menschen in den Industrieländern werden nur ungern Einschränkungen hinnehmen, die sich derzeit auch nur schwer politisch durchsetzen ließen. Harte Auseinandersetzungen zwischen Nord und Süd werden sich kaum vermeiden lassen.
Wie wollen die Industrienationen auf die Forderung der Armen und Unterentwickelten nach mehr Gerechtigkeit reagieren? Kommt es zu dem schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts propagierten „Weltkampf um Rohstoffe“? Steht uns auf einem von Klimakatastrophen geschüttelten Planeten eine unkontrollierbare Flut von Armutsflüchtlingen und zuletzt ein Krieg um Lebensplätze bevor? Werden die Reichen ihre Vormachtstellung mit Waffengewalt verteidigen wollen? Oder finden wir einen friedlichen Weg, die Gerechtigkeitslücke zu schließen?
Ein Blick in die Zukunft
Die Forderung nach Gerechtigkeit war in der Weltgeschichte meist nur ein philosophisches Thema, ungeeignet für die Anwendung in der praktischen Politik. Allenfalls ließen sich Feinde mit juristischen Spitzfindigkeiten ins Unrecht setzen, oder fragwürdige Entscheidungen formal rechtfertigen. Selbst Religionen – eigentlich der Wahrheit und der Gerechtigkeit verpflichtet – haben bislang wenig bewirkt, wenn es um die praktische Durchsetzung von Natur- und Menschenrechten ging.
Auch ist es bisher in der Weltgeschichte noch kaum vorgekommen, dass eine Großmacht ihre Vorrangstellung widerstandslos aufgegeben hätte. Werden sich dementsprechend auch die USA und Europa gegen die „asiatische Herausforderung“ wehren?
Mit welchen Mitteln?
Müssen Europa und die USA vereint kämpfen, wenn sie nicht getrennt geschlagen werden wollen? Hat das in sich zerstrittene, inhomogene Europa überhaupt die Kraft und die Möglichkeit zu einem Alleingang?
Die Prognosen sind nicht ermutigend:
„Europa wird wählen müssen. Wenn es, um sich zu schützen, auf präventive Kriegsführung setzt, wird es einen Schulterschluss mit den USA und den Marktfundamentalisten in der Wirtschaft anstreben. Wenn es Vorreiter einer Politik präventiver Gerechtigkeit in der Welt sein möchte, wird es Koalitionen mit gleichgesinnten Staaten und in die Zivilgesellschaft hinein suchen. Dann kann es dem europäischen Projekt nur gut tun, wenn die Europäer hin und wieder vom alltäglichen Handgemenge in Brüssel aufschauen und sich fragen, wofür sie denn von den kommenden Generationen am Ende des 21. Jahrhunderts erinnert werden möchten. Denn darum handelt es sich: In der sich entfaltenden Weltgesellschaft wird Europa nicht durch die Zahl seiner Menschen, sondern nur durch die Kraft seiner Ideen überleben. Die transnationale Welt von morgen werden braune, gelbe und schwarze Gesichter bevölkern, die europäischen Weißen werden kaum mehr als sieben Prozent der Weltbevölkerung ausmachen. So wird die Weltgesellschaft des 21. Jahrhunderts ganz gewiss keine europäische Gesellschaft sein – wie das Europa des 15. Jahrhunderts auch keine griechisch-römische Gesellschaft war.“ (6, S. 246).
Literatur:
(1) Kesselring Thomas, Ethik der Entwicklungspolitik, C. H. Beck, München, 2003.
(2) Lovelock James, Gaias Rache, Ullstein, Berlin 2007.
(3) Meadows Denis, Die Grenzen des Wachstums, dva, Stuttgart, 1972.
(4) Parker Geoffrey, Die militärische Revolution, Campus, Franakfurt, 1990.
(5) Ritsert Jürgen, Gerechtigkeit und Gleichheit, Westfälisches Dampfboot, Münster, 1997.
(6) Sachs Wolfgang, Fair Future, C. H. Beck, München 2005.
Endnoten:
[i]Wenn in politischen Sonntagsreden von „sozialer Gerechtigkeit“ gesprochen wird, bleibt meist unklar ob „Chancen- bzw. Verfahrensgerechtigkeit“ oder „Verteilungs- bzw. Ergebnisgerechtigkeit“ gemeint ist.
[ii] Augustinus (354-430), Bischof von Hippo, war der größte lateinische Kirchenlehrer des Altertums.
[iii] Zur biblischen Rechtfertigung der Sklaverei vgl. „Kurz, knapp, kurios“ Seite 285 „Sklavenraub im Mittelmeer“.
[iv] CIA = Central Intelligence Agency, der Auslandsnachrichtendienst der USA.
[v] In diesem Zusammenhang ist interessant, dass es Anfang 2007 in Mexiko zu Demonstrationen wegen zu hoher Mais-Preise kam. Diese sind dadurch bedingt, dass in den USA Mais zu Bio-Sprit für PKWs vergoren wird.