Der Wert des religiösen Denkens als Gegenpol zum Materialismus
(Veröffentlicht in GralsWelt 60/2010)
Wir haben in der GralsWelt verschiedentlich über moderne Bestrebungen berichtet, die Religionen am liebsten abschaffen möchten. Aus der szientistischen Sicht[i] mancher Naturwissenschaftler stehen Religionen der Wahrheitssuche im Wege und gefährden – sofern sie in gewaltbereiten Fundamentalismus abdriften – sogar das Überleben der Menschheit.
Demgegenüber steht die sehr alte Überzeugung, dass die Fähigkeit zur Religiosität zu den Kriterien gehört, die einen Menschen von einem – noch so hoch entwickelten – Tier unterscheiden. Die Religiosität ist untrennbar verbunden mit der menschlichen Entwicklung, und viele empfinden ihr Menschsein als gleichbedeutend mit religiös sein.
Wo also liegt das Missverständnis zwischen Wissenschaft und Religion, das es diesen beiden Bestrebungen nach Erkenntnis so schwer macht, sich gemeinsam auf die Wahrheitssuche zu begeben? Und worin liegt der Wert der Religionen?
Was ist eine Religion?
In einer Zeit, in der nichts ungefragt hingenommen wird, stellt sich auch die Frage: Was ist eigentlich eine Religion? Neureligionen wird zum Beispiel gelegentlich die Berechtigung abgesprochen, sich als „Religion“ zu bezeichnen.
Jahrhunderte lang galt im Abendland nur das Christentum als Religion; alles andere war „heidnisch“ (heute vornehmer „pagan“ genannt) oder gar vom Teufel.
Vielleicht kann man sich darauf einigen, dass zu einer Religion bestimmte Kriterien gehören:
• Transzendenz: Die Lehre von der Existenz überirdischer Kräfte, Mächte, Wesen oder der Glaube an Gott. In diesem Punkt unterscheiden sich Religionen von (politischen) Ideologien, die zwar religionsähnliche Formen annehmen können, aber nicht transzendenzgläubig sind.
• Lehre: Ohne Ethik und Glaubensüberzeugungen (zum Beispiel eine Lehre von den „letzten Dingen“) ist eine Religion kaum denkbar.
• Kult: Zur Religionsausübung gehören religiöse Riten, kultische Handlungen.
Man darf darf in dem Dreiklang von Transzendenz – Lehre – Kult eine Gemeinsamkeit aller Religionen erkennen, so verschieden sie in sonstiger Hinsicht auch sein mögen. Der Ursprung dieser Dreiheit liegt weit zurück, in Zeiten lange vor der Erfindung der Schrift.
Seit wann gibt es Religionen?
Früheste Hinweise auf die Religiosität lassen sich bei Urmenschen seit etwa 120.000 Jahren finden (15). Sowohl beim Neandertaler als auch beim Homo sapiens deuten Funde – vor allem rituelle Bestattungen – auf religiöse Ideen und Riten hin (9, S. 34 f.). Damit wäre von den genannten Kriterien für eine Religion die Existenz von Lehre und Kult gegeben, so dass man mit einiger Berechtigung vermuten darf, dass es altsteinzeitliche Religionen gab.
Über Jenseitsvorstellungen, Gottesbilder, Lehren, sonstige religiöse Ideen unserer Vorfahren in schriftlosen Zeiten lässt sich nur spekulieren.
Die Suche nach dem Sinn
Zu den tiefsten menschlichen Regungen gehört die Suche nach dem Sinn. Ein Mensch will sein Leben verstehen, will wissen, wie und warum die Ereignisse um ihn so ablaufen, wie sie geschehen. Wo es einem Menschen an Verständnis für (überraschende) Geschehnisse fehlt, sucht er nach überirdischen Erklärungen.
In dieser Sinnsuche sehen auch viele Materialisten den Ursprung der Religionen, die aus deren Sicht ziemlich identisch wären mit dem Aberglauben.
Seit die Naturwissenschaften die Vorgänge in der sichtbaren Welt immer besser erklären können, muss man Krankheiten, Unwetter und Naturkatastrophen nicht mehr als Strafen für menschliche Sünden oder als Wutausbrüche einer Gottheit interpretieren. Doch wenn einzelne oder ganze Völker von Schicksalsschlägen getroffen werden, stellt sich doch wieder die Frage nach dem Sinn des Lebens oder der Gerechtigkeit Gottes.
Eine befriedigende Antwort wird dann oft nach wie vor auf transzendenter Ebene gesucht; denn das Innerste des Menschen will sich nicht damit abfinden, dass alles ein Spiel des Zufalls sei.
Religion als moralische Instanz
Besonders im Abendland konnten Religionen manchmal – leider bei weitem nicht oft genug – einen mäßigenden Einfluss auf die Machthaber ausüben und ethisches Verhalten einfordern. Denn die wahre Macht der Religion beginnt jenseits der Grenzen irdischer Gewalt!
Schon in der Antike hatte die Religion ihren Stellenwert als moralische Instanz. Christliche Priester konnten bei der Durchsetzung ihrer religiösen Ethik auf eine lange Tradition aus „heidnischer Zeit“ zurückblicken. Beispielsweise durfte Nero (Römischer Kaiser von 54–68) nicht an den Mysterien von Eleusis teilnehmen, weil er durch den Mord an seiner Mutter Blutschuld auf sich geladen hatte (12).
Ambrosius von Mailand (339–397) sagte: „Der Kaiser ist in der Kirche, nicht über der Kirche“ (12). Und er nötigte „den Römischen Kaiser Theodosius I., öffentlich Reue und Buße zu tun, weil er ein Massaker an Aufständischen in Thessaloniki angeordnet und 7000 Menschen im Zirkus hatte umbringen lassen (11). Gegenüber den Juden ließ der Kirchenvater Ambrosius – wie viele Christen nach ihm – Toleranz und Menschlichkeit allerdings vermissen (4, S. 104 f.).
Viele Gläubige sind auch stolz auf Christen, die sich bis zum Martyrium einem ungerechten Herrscher widersetzten; wie zum Beispiel Johannes von Nepomuk (1350–1393) oder Thomas Morus (1477–1535).
Leider wurde die den Priestern zugefallene geistliche Macht oft fehlgeleitet, um der Kirche oder den Interessen von Klerikern, nicht aber dem Wohl der Menschen zu dienen. So war es nur folgerichtig, dass Priester und Kirchen an Ansehen verloren. So gut wie alle Religionen litten und leiden unter unzureichender geistiger und menschlicher Qualität – wenn nicht gar unter schwerem Fehlverhalten – vieler ihrer Diener. Wenn Anspruch und Wirklichkeit auseinander klaffen, gerät das ganze System in Gefahr!
Ein wahrhaft religiöser Mensch muss seine Überzeugung ins tägliche Leben umsetzen, auf seinem geistigen Weg mit dieser inneren Überzeugung vorangehen. Sonst trifft eine gerne zitierte Scheinfrage mit Tiefgang ins Schwarze: „Was ist ein Pfarrer?“ Antwort: „Ein Pfarrer ist ein Mensch, der den einzig richtigen Weg genau kennt, diesen Weg Allen lehrt, aber ihn selbst nicht geht.“
Trotz allen Missbrauchs kirchlicher Macht und allen Versagens von Priestern hat die christliche Ethik doch Gutes bewirken können. So bot sie in der Neuzeit schließlich die Basis für ein erweitertes Verständnis der Menschenrechte im Zuge der Aufklärung.
Religiöse Macht außerhalb des Christentums
Im Islam fehlt der Gegensatz zwischen irdischer und religiöser Gewalt, zwischen Kaiser und Papst, der Jahrhunderte lang die Geschichte des christlichen Mitteleuropas prägte. Einem sehr alten, schon aus der Antike stammenden Ideal entsprechend, sollte im Islam der geistig Reifste, der Wissendste, als Kalif – Nachfolger Mohammeds – geistlicher Führer und irdischer Herrscher sein. Als Vorbild diente der Prophet Mohammed; der einzige Religionsgründer, der auch weltlicher Herrscher und Heerführer war[ii].
Wie fast alle Ideale ließ sich auch dieses nicht dauerhaft verwirklichen. Die Kalifen waren in der Regel autokratische Machtpolitiker, die sich oft brutal über die Ethik ihrer Religion hinwegsetzten, ohne dass sie von islamischen Würdenträgern zur Ordnung gerufen werden konnten. Seit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg ist das Kalifat erloschen. –
In weiten Teilen Asiens erlangten Buddhismus, Hinduismus, Taoismus nur selten genug Einfluss, um die Herrschenden Asiens in ähnlicher Weise zu beeinflussen wie das Christentum auf die christlichen Fürsten einwirken konnte. So kam man in Asien schon lange vor Europa zu den rigorosen Vorstellungen über die Ausübung von Herrschaft, die wir heute als „Machiavellismus“ brandmarken. In Asien blieb es dem einzelnen Fürsten überlassen, sich an die Ethik seiner Religion zu halten – oder auch nicht. (Vgl. „Kurz, knapp, kurios“ Seite 92 „Politik ohne Moral: Machiavelli und sein Fürst“).
Die humane Kraft des Christentums
Liegt im Fehlen mäßigender religiöser Einflüsse vielleicht eine der Ursachen, dass Kriege und Unterdrückung in Asien oder Afrika meist noch grausamer und menschenverachtender waren – und zum Teil noch sind –, als in Europa? Schließlich kamen alle Ansätze zur Humanisierung – selbst des Krieges – aus dem christlich geprägten Abendland. Als Beispiele seien genannt: Abschaffung der Hexenprozesse, Verbot von Tortur und Körperstrafen, Religionsfreiheit, Beendigung der Sklaverei und der Leibeigenschaft, Menschenrechtserklärungen, Genfer Konvention, Haager Landkriegsordnung, Kongoakte, Rotes Kreuz.
Die in der Botschaft Jesu enthaltene Menschlichkeit blieb über zwei Jahrtausende hinweg nicht ohne Wirkung, wie dieser Vergleich Europas mit anderen Kontinenten zeigt.
Dass auch Europäer rigorose Eroberer und Kolonialisten waren, dass es auch in Europa zu grausamen Kriegen und grauenhaften Exzessen atheistischer Ideologen kam, kann diese Feststellung vom mäßigenden Einfluss der christlichen Ethik nicht widerlegen. Denn gerade im Abendland erhoben sich immer wieder mahnende Stimmen religiöser Menschen, die weltliche und geistliche Herrscher zu geistigem Verantwortungsbewusstsein aufriefen. Meist verhallten diese Rufe ergebnislos. Doch auf längere Sicht wirkten solche Mahnungen nach, und sie trugen zu der Entwicklung eines menschlicheren Bewusstseins bei. Auch die Verbrechen der Kolonialisten blieben nicht unwidersprochen, und das Unrechtsbewusstsein gegenüber Sklaverei, kolonialer Ausbeutung, religiöser oder rassistischer Verfolgung und sonstigen Menschenrechtsverletzungen wuchs – zumindest in der westlichen Welt. Andere Regionen haben hier noch manchen Nachholbedarf.
Selbstverständlich verfügen auch nichtchristliche Religionen – zum Beispiel der Buddhismus – über entsprechende ethische Werte wie das Christentum und können in gleicher Weise aufbauend wirken. Die Ethik aller Hochreligionen enthält ja ähnliche Forderungen an das Verhalten des Menschen und für seine spirituelle Entwicklung. Eine ersprießliche Zusammenarbeit der vielen Religionen unserer Welt sollte auf dieser Basis möglich sein. Probleme bereiten hier vor allem engstirnige, an ihre Theologien gebundene fundamentalistische Priester.
Wenn Konfessionen unbelehrbar auf ihren Dogmen beharren und mit anderen geistigen Bestrebungen nicht zusammenarbeiten wollen, darf man bezweifeln, dass es ihnen um die religiöse Wahrheit geht, die niemand auf Erden für sich alleine beanspruchen kann.
Antworten auf die Grundfragen des Lebens
Für die Beantwortung der Grundfragen des Menschseins – Woher komme ich? Wohin gehe ich? Was ist der Sinn meines Lebens? – sind die Religionen zuständig. Religiöse Lehren beginnen, wo die Wissenschaften enden: also an der Grenze zwischen dem Materiellen, dem mit physikalischen Mitteln Nachweisbaren, und dem Spirituellen oder Transzendenten, das nur dem Innersten des Menschen, seinem Geist zugänglich ist. Religiöse Erfahrungen sind ganzheitlich, mit wissenschaftlichen Methoden nicht zu fassen, allenfalls als Erfahrungsberichte in Dokumenten zu sammeln. Daher tun sich Metaphysik, Religiosität, Spiritualität oder Theologie auch so schwer, wenn sie sich an dem physikalisch Nachweisbaren messen lassen müssen. –
So gut wie allen Religionen gemeinsam ist die Lehre von der Weiterexistenz der Geistpersönlichkeit des Menschen nach seinem irdischen Ableben. Der Mensch ist also nicht nur sein Körper. Der Erdenkörper ist das Werkzeug, vergleichbar einer Taucherglocke, das der unsterbliche Menschengeist benötigt, um in der für ihn an sich artfremden Umgebung – auf Erden – zu weilen und zu wirken.
Der Glaube an ein Weiterleben nach dem Tode ist die vermutlich älteste und sicher die verbreitetste aller religiösen Lehren. Materialistische Denkmodelle stellen schon seit der Antike diese Glaubensvorstellung in Frage. Zur Zeit von Jesus glaubten zum Beispiel die Sadduzäer nicht an ein Weiterleben nach dem Tod. –
• Woher komme ich? – Für asiatische Religionen ist selbstverständlich, dass die eigentliche Persönlichkeit des Menschen schon vor dem jeweiligen Erdenleben existierte. Sie hat in anderen (menschlichen) Körpern auf Erden gelebt, oder sich in feineren Ebenen, dem sogenannten Jenseits aufgehalten. Ein Mensch wird also nicht als unschuldiger Säugling, als unbeschriebenes Blatt geboren. Er bringt bei seiner Geburt schon vielseitige Erfahrungen, aber auch manche Belastungen mit.
Diese „Reinkarnationslehre“ war im Altertum auch im Abendland verbreitet. Griechischen Philosophen, den Alten Juden und den frühen Christen war sie bekannt. Dann haben das Judentum, die christlichen Konfessionen und der Islam diese Lehre von den mehrmaligen Erdenleben verdrängt.
* Wohin gehe ich? – Die unsterbliche Seele, die Geistpersönlichkeit des Menschen, existierte vor ihrem Eintritt in ihr Erdenleben in einer anderen, der jenseitigen, der transzendenten Welt. Nach dem Verlassen ihres irdischen Körpers taucht sie in diese Anderswelt mehr oder weniger lange wieder ein.
* Was ist der Sinn des Lebens? – Für die biologische Maschine Körper ist der Sinn des Lebens erfüllt, wenn sie sich reproduziert hat. Die Kette für das Weiterleben ist gesichert. Religionen und Religiosität sagen aber, dass der eigentliche Sinn des Lebens für die Geistpersönlichkeit über das kurze Erdensein hinausreicht. Das spirituelle Ziel eines Erdenlebens besteht in der Entwicklung der menschlichen Seele. Auch diese muss einem generellen Prinzip der Natur folgen, die von jedem Lebewesen Bewegung, Entwicklung, Fortschritt fordert. Abd-ru-shin, der Verfasser des Werkes „Im Lichte der Wahrheit“, sagt in dieser Hinsicht sinngemäß, ein Menschengeist soll in seinem derzeitigen Leben seine Einsicht in das Schöpfungsweben erweitern und eventuelle Belastungen abbauen, die Folgen von Fehlleistungen aus diesem oder einem früheren Leben sind. Dann wird sein geistiges Sein nach dem irdischen Ableben aufbauend weitergehen.
Das Dilemma der Religionen
Von ihrem Ursprung her sollten Religionen die Brücke bilden zwischen „zwei“ Welten: der diesseitigen, der Welt der Materie, und der jenseitigen, der „geistigen“ Welt. Also zwischen zwei Bereichen des Lebens, die nur aufgrund der begrenzten körperlichen Wahrnehmung getrennt erscheinen.
Als Mittler zwischen diesen beiden Reichen wirkten und wirken Avatare[iii], Eremiten, Gurus, Hellseher, Lichtgesandte, Mönche, Mystiker, Priester, Rishis[iv], Schamanen, Visionäre, Weise, Zauberer. Sie alle beanspruchen, über einen tieferen Einblick in das Schöpfungsweben oder über Jenseitskontakte zu verfügen. Es geht bei einer Berufung zur Priesterschaft also um erlebtes Schöpfungswissen, das sich theologischen Spitzfindigkeiten entzieht – jenseits von Animismus (alles ist beseelt oder der Wohnsitz von Geistern), Pantheismus (Allgottglaube), Polytheismus (Vielgottglaube) oder Monotheismus (Eingottglaube).
Die Einteilung der Religionen in animistische, pantheistische, polytheistische, monotheistische usw. Glaubensformen entspringt ja nur wissenschaftlichen Klassifizierungen, die mit dem wahren Schöpfungsweben wenig zu tun haben.
Naturwesen, in der christlichen Tradition zu den Engeln gerechnet, pflegen und hegen Tiere, Pflanzen und Gestein. Manche Hellseher mögen daraus ein animistisches Weltbild ableiten.
In der Natur wirken die von Gott ausgehenden Schöpfungsgesetze oder Naturgesetze überall uneingeschränkt – was auf den ersten Anschein wie Pantheismus wirken kann.
Einem Seher mögen hohe Naturwesen wie Götter erscheinen – wodurch ein polytheistisches Religionsverständnis begründet wird.
Der Monotheismus schließlich ergibt sich aus der (offenbarten) Erkenntnis des allmächtigen, wesenlosen Gottes, aus dessen Wollen die Schöpfungen samt Naturgesetzen und Naturwesen hervorgegangen sind.
Jedenfalls liegt in der Tatsache, dass die Priesterschaft erlebtes Schöpfungswissen vermitteln soll, die tiefe Problematik aller Religionen: Ein Mittler zwischen dem Geistigen und dem Irdischen muss ein spiritueller Mensch sein; am besten ein Begnadeter, von höheren Mächten Auserwählter. Eine irdische Schulung mag nützlich sein und hilfreich, doch für einen geistigen Führer reicht sie nicht aus. Es gibt auf Erden auch keinen spirituellen Ausbildungsweg, den nur geistig Berufene gehen können – zumindest derzeit nicht mehr. Ob Hohepriester der Antike in der Lage waren, die von höheren Geistwesen im Jenseits zur Priesterschaft Auserwählten zu erkennen, sei dahingestellt; ebenso, ob es zutrifft, dass ein Schamane durch unsichtbare Wesen oder Kräfte zum Schamanentum berufen wird[v].
Von einem Priester werden weit höhere geistige Qualitäten verlangt, als von durchschnittlichen Menschen. Können Priester diesen Anforderungen nicht genügen, müssen sie bei der Erfüllung ihrer eigentlichen Aufgabe versagen; ihre Religion degeneriert und verliert an Glaubwürdigkeit.
Die notwendige religiöse Dynamik
Religionen sind in der Regel konservativ. Ihre Leiter wollen Lehre und Ritus erhalten, unverfälscht weitergeben. Ansätze zu Veränderungen, Ergänzungen, Weiterentwicklungen treffen meist auf Widerstand. Und wenn ein offener Gedankenaustausch, das ehrliche Bekenntnis zur eigenen Überzeugung behindert wird, blüht auch bald die Heuchelei.
Durch das fortlaufende Wiederholen unverstandener alter Weisheiten und das Zitieren der zeitgebundenen Aussagen von Autoritäten wird eine Religion nicht überzeugender. Jede Generation, jeder Einzelmensch, muss ja die religiösen Grundwahrheiten für sich neu erschließen, im Rahmen seiner zeitbezogenen Einsichtsfähigkeit in sich neu erleben. Damit ist auch jeder Mensch für seine Religiosität persönlich verantwortlich.
Religiöse Wahrheiten sind zeitlos und universell. Recht verstanden, sind sie mit allen neuen, auch den wissenschaftlichen Erkenntnissen im Einklang. Doch jeder Einzelne, jede Generation, kann die religiösen Wahrheiten nur zum Teil erfassen und kann nur das davon umsetzen, was verinnerlicht wurde. Religiöse Überlieferungen können dazu wertvolle Hilfen bieten. Doch sie müssen nachempfunden, von der eigenen Einsicht getragen werden. Die jeweilige historische Situation, die Entstehungszeit der Lehren, ist zu berücksichtigen.
Keine Religion darf dieser dauernden Auseinandersetzung mit der sich fortlaufend wandelnden Welt ausweichen. Sonst wird sie lebensfremd, verliert den Bezug zur gelebten Wirklichkeit und muss sich zu Recht fragen lassen, ob sie in der Gegenwart noch von geistigem Nutzen ist.
In der Regel fürchten sich die religiösen Führer vor spirituellen Diskussionen, die in ihrer Lebendigkeit unberechenbar sind. Glaubensinhalte könnten in Frage gestellt werden, die Debatten außer Kontrolle geraten, und Spaltungen drohen. Dann vermag nur eine überragende, spirituelle Führerpersönlichkeit integrierend zu wirken und das Auseinanderdriften zu verhindern.
Aus Sorge um den Zusammenhalt wird die Weiterentwicklung einer religiösen Lehre oft blockiert. Aus der einst lebendigen Religion wird dann eine unbewegliche, bürokratisch verwaltete Organisation. Diese erschöpft sich in vordergründigem Aktionismus, weil sie ihre Spiritualität eingebüßt hat und ihre eigentliche Aufgabe als Mittler zwischen zwei Welten nicht erfüllen kann.
Spiritualität kennt keine Dogmen
Die Religionsgeschichte ist eine Geschichte von Erfolgen und besonders auch des Versagens. Die religiösen Lehrer konnten dem eigenen Anspruch meist nicht genügen. Die Vertreter der Religionen enttäuschten, trieben Machtpolitik, hielten und halten zäh an Irrtümern fest.
Doch Spiritualität kennt keine Dogmen. Sie lebt, allen Hemmnissen zum Trotz. Religiöse Erfahrungen wirken über Jahrhunderte hinweg – ohne Rücksicht auf Konfessionen. Die unsicher überlieferten Worte eines von Gott gesandten jüdischen Wanderpredigers aus dem ersten Jahrhundert haben die Weltgeschichte zwei Jahrtausende lang nachhaltig beeinflusst. Diese Tatsche allein spricht schon für die unbezwingbare Kraft religiösen Empfindens und spirituellen Erlebens. Denn der Verstand grübelt und zerredet, doch der Geist des Menschen weiß!
Auf religiösem Gebiet gibt es keine Sicherheit, keine wissenschaftlich abgesicherten Fakten, keine objektiv beweisbaren Lehren. Was bleibt, was die Zeiten überdauert, ist die tiefe Sehnsucht des Menschen nach Wahrheit, nach Gotterkenntnis. Echte Wahrheitssuche ist ein Weg geistiger Freiheit, und damit das Gegenteil von konfessioneller Bindung an eine dogmatische Lehre mit Denkverbot. Wahrheit ist umfassend und lebendig. Sie lässt sich nicht vereinnahmen oder in Konzilen definieren, und sie kennt auch kein Verfallsdatum.
Jeder Einzelne ist in seiner Wahrheitssuche auf sich selbst zurückgeworfen, muss in seinem Inneren suchen, muss sich entscheiden – für oder gegen seine persönliche Religiosität, für oder gegen den universellen Anspruch des Materialismus, für oder gegen die Dogmatik etablierter Lehren.
Der religiöse Bereich berührt das Innerste des Menschen zutiefst. Die hier erlebten Enttäuschungen durch unberufene Priester oder gar durch Scharlatane, verletzen das Empfinden sehr schmerzhaft. Solche tiefgreifenden Enttäuschungen, die wahrheitssuchende Menschen nicht selten erfahren, können zur Ablehnung alles Religiösen führen. Entsprechend groß ist die Verantwortung aller Priester, aller religiösen Menschen, die für ihren Glauben eintreten!
Religion als Gegenpol zum Materialismus
Wo Religionen fehlen, nicht wirken können, oder – wie im bolschewistischen Russland – abgeschafft wurden, mangelt es an wichtigen, zivilisierenden Regulativen für unser Leben:
Ein lebenswichtiger Teil der menschlichen Natur
„So wenig ein Wissen über die biologische Funktion der Sexualität die Gefühle eines Liebenden zerstören kann, so wenig muss eine systematische wissenschaftliche Untersuchung der religiösen Erfahrung in einer empirischen natürlichen Theologie zerstören, was jemand in der Verbindung mit dem, was er als Gott fühlt, erlebt. Die Freude, die aus den Berichten über solche Erfahrungen spricht, ist völlig verschieden von allem, was Aberglauben heißt; sie ist vielmehr mit der Liebe in Verbindung zu bringen. Wir müssen uns vor der Gefahr hüten, in unserem rationalen Eifer, den Aberglauben auszurotten – und wer würde leugnen, dass er in der religiösen Praxis der Vergangenheit seine Rolle gespielte hat? –, den Funken göttlichen Fühlens zu ersticken, der, recht verstanden, sich als lebenswichtiger Teil der menschlichen Natur enthüllen könnte: ein Teil, der, wie ich überzeugt bin, biologisch so real ist wie die Sexualität.“
Hardy Alister Clavering (aus dem Buch „Der Mensch – das betende Tier“)
Die Frage nach dem Sinn findet keine Antwort. Welt, Natur, Leben sind aus naturwissenschaftlicher Sicht ein sinn-, zweck- und zielloses Spiel des Zufalls. Ein individuelles, ein höheres Entwicklungsziel für die Geistpersönlichkeit eines Menschen kann die Naturwissenschaft nicht bieten. Denn die Aufgabe der Lebewesen erschöpft sich im darwinistischen Sinn darin, ausreichend viele überlebensfähige Nachkommen zu produzieren.
„Der Mensch ist seiner Natur nach ein religiöses Lebewesen.“
Edmund Burke (1729–1797) in „Betrachtungen über die Französische Revolution“„Die Kirche hat nicht den Auftrag, die Welt zu verändern. Wenn sie aber ihren Auftrag erfüllt, verändert sie die Welt.“
Carl Friedrich v. Weizsäcker (1912–2007)
Ohne religiöse Grundlage fehlt das Bewusstsein der Verantwortung gegenüber dem Schöpfer. Aus echter Religiosität ergeben sich unentbehrliche moralische Maximen, die durch staatliche Gesetze oder philosophische Imperative nicht zu ersetzen sind. Alexander Solschenizyn sagte dazu: „Die Menschen haben Gott vergessen, daher kommt dies alles.“ Und weiter „Wir sind Zeugen einer erzwungenen Zerstörung, sei es einer freiwilligen Selbstzerstörung der Welt. Das ganze 20. Jahrhundert wird in den Mahlstrom des Atheismus und der Selbstvernichtung hineingerissen“ (1).
Materialistische Denkmodelle haben im 20. Jahrhundert die religiöse Ethik in weiten Bereichen verdrängt. Hat dieser Mangel an ethischer Gesinnung zu den Verbrechen der Bolschewisten, Nationalsozialisten, Maoisten usw. beigetragen? Schließlich waren die großen Menschheitsverbrecher des 20. Jahrhunderts allesamt Atheisten!
Macht sich auch im 21. Jahrhundert das Fehlen einer ethischen Grundhaltung in zerstörerischer Weise bemerkbar?
Die Achtung des Lebens der anderen, von Pflanzen, Tieren, Menschen, ist ein zutiefst religiöses Anliegen, das zum Beispiel im abendländischen Kulturkreis zu wenig beachtet wurde. Ökologische Erkenntnisse können diese geistige Einsicht nicht hinreichend ersetzen, die sich schon in der Lehre Christi finden lässt.
Wenn Religionen ihre Aufgaben nicht erfüllen, Priester versagen, die Bedeutung alles Lebendigen zu wenig erkannt wird, das Verantwortungsbewusstsein gegenüber dem Schöpfer fehlt, ist der Niedergang einer Gesellschaft unvermeidlich.
Der Wahrheit verpflichtete, ernsthaft gelebte, nach allen Seiten offene, verinnerlichte Religionen sind für das Überleben der Menschheit entscheidend!
Der Wert einer Religion oder eines Bekenntnisses, und die Qualität ihrer Bekenner lässt sich heute, wie vor zwei Jahrtausenden, an einem Jesus-Wort messen: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.“ (Matth. 7, 16).
Lesen Sie dazu auch „Die ersten Schritte in der Anderswelt“ unter „Religionsgeschichte“.
Literatur:
(1) Die Welt, Nr. 128, Samstag, 4. Juli 1983.
(2) Fagan Brian M., Aufbruch aus dem Paradies, Beck, München 1991.
(3) Hagl Siegfried, Auf der Suche nach einem neuen Weltbild, Verlag der Stiftung Gralsbotschaft, Stuttgart 2002.
(4) Hagl Siegfried, Der okkulte Kanzler, Eigenverlag, Gräfelfing 2000.
(5) Hagl Siegfried, Spreu und Weizen, Gralsverlag, Eggersdorf 2003.
(6) Hardy Alister Clavering, Der Mensch – das betende Tier, Klett-Cotta, Stuttgart 1979.
(7) Mahlstedt Ina, Die religiöse Welt der Jungsteinzeit, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2004.
(8) Müller-Karpe Hermann, Geschichte der Gottesverehrung, Lembeck, Frankfurt 2005.
(9) Ohlig Karl-Heinz, Religion in der Geschichte der Menschheit, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2002.
(10) Schaller Fritz P., Die Evolution des Göttlichen, Patmos, Düsseldorf 2006.
(11) http://www.Heiligenlexikon.de/BiographienA/Ambrosius_von_mailand.htm.
(12) http://de.wikipedia.org/wiki/Ambrosius_von_Mailand.
(13) http://de.wikipedia.org/wiki/Mysterien_von_Eleusis.
(14) http://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Europe_belief_in_god.svg .
(15) http://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Weltreligionen.png .
(16) http://de.wikipedia.org/wiki/Religion.
Endnoten:
[i] Szientismus (Scientismus) = die Auffassung, dass sich mit naturwissenschaftlichen Methoden alle sinnvollen Fragen beantworten lassen.
[ii] Abgesehen vielleicht von Moses, der aber in der heutigen Geschichtsforschung nicht als historische Gestalt betrachtet wird.
[iii] Avatar = die Inkarnation eines höheren Wesens.
[iv] Als Rishis bezeichnet man im Hinduismus Seher oder mythische Weise.
[v] Vgl. „Schamaninnen in Korea“ unter „Buchbesprechungen“