(Veröffentlicht in GralsWelt 54/2009)
Religionswissenschaftler gehen davon aus, dass Religionen seit Beginn der Menschheitsgeschichte die Kulturentwicklung begleiten.
Religiöses Empfinden ist anscheinend ein wesentlicher Teil der spezifisch menschlichen Eigenschaften, die ihren Ausdruck z. B. in Kulten, Ritualen, Mythen, Kunst, Musik, Erziehung usw. finden. Religiosität gehört auch zu den grundlegenden menschlichen Antrieben, welche die Gesellschaft und ihre Kultur formen. Religiosität erscheint daher als ein wichtiger Faktor, der den Menschen von anderen Lebewesen grundlegend unterscheidet.
„Kult soll das formgewordene Bestreben sein, etwas irdisch Unerfaßbares dem Erdensinnen irgendwie aufnehmbar werden zu lassen.“
Abd-ru-shin
Auch archäologische Funde lassen vermuten, dass Religiosität schon vor Hunderttausend Jahren ihren Ausdruck in kultischen Handlungen oder in Ritualen fand.
Wahrscheinlich fühlten sich altsteinzeitliche Menschen, genauso wie wir heute, in besonderen Situationen gedrängt, ihrem Erleben Ausdruck zu verleihen. Zuerst durch spontane Handlungen wie Dank für die Errettung aus einer Gefahr, Bitte um Gesundheit, Versöhnung der Seele eines erlegten Tieres usw. Auch besondere Ereignisse wie Geburt, außergewöhnlicher Jagderfolg, Unwetter, Naturkatstrophen, Erwachsenwerden, Krankheit oder Tod trieben geradezu zu rituellen Handlungen an, die helfen sollten, den neuen Lebensabschnitt oder die Wucht des Unerklärlichen, das eigene Überwältigtsein, wenigstens auszudrücken, wenn man es schon nicht verstehen konnte. Das war ein überlebensfreundlicher Ersatz für Verstehen. So gab es z. B. schon vor 35.000 Jahren bei den Neandertalern Bestattungen, bei denen dem Verstorbenen Blumen ins Grab gelegt wurden. Einer der ältesten Gebräuche der Menschheit! Er belegt Gefühle der Zuneigung und Schönheitssinn.
Zwar lässt sich aus solchen Funden erkennen, dass es irgend ein geistiges Erleben, das mit solchen Handlungen zum Ausdruck gebracht wurde, gegeben haben dürfte (vielleicht den Glauben an ein Weiterleben nach dem Tode), doch religiöse Vorstellungen, Glaubensinhalte, Mythen sind aus Grabbeigaben und sonstigen Stein- oder Knochenfunden schwer zu entschlüsseln. Von den religiösen Vorstellungen altsteinzeitlicher Menschen wissen wir daher so gut wie nichts. Verlässliche Kunde vom religiösen Erleben unserer Vorfahren kommt erst mit der Erfindung der Schrift.
Da wir Menschen das Bedürfnis haben, Ordnung in unsere Umwelt zu bringen, begann man die zuerst spontanen religiösen Handlungen zu schematisieren. So entstanden die zahlreichen (nicht nur religiösen) Rituale, welche überliefert wurden und noch heute unser Leben mitgestalten. Meist werden diese Rituale vollzogen, ohne darüber nachzusinnen, wofür sie stehen (Beispiel: Händeschütteln).
Wichtige Lebensabschnitte wurden mit entsprechenden Riten, beziehungsweise Zeremonien begleitet: Für Geburt, Erwachsenwerden, Heirat, Krankheit, Tod usw. gibt es bei allen bekannten Kulturen entsprechende Riten, die oft von Spezialisten (Priestern, Schamanen) durchgeführt werden.
Man darf daher davon ausgehen, dass religiöse Rituale sehr alt sind. Sie haben in der Geschichte Formen und Inhalte gewandelt (z. B. Ischtar oder Diana zur Mutter Gottes); sind aber nur auf den ersten Blick in den verschiedenen Religionen sehr unterschiedlich. Denn bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass auch heutige Rituale noch einen ganz ähnlichen Zweck verfolgen wie ihre uralten Vorbilder vor vielen Jahrtausenden. Die Probleme der Menschen haben sich zwar äußerlich gewandelt, im Kern sind sie seit Jahrtausenden die gleichen geblieben.
Dabei ist noch zu beachten, dass es während der längsten Zeit der Menschheitsentwicklung keine Trennung zwischen religiöser und staatlicher Gesetzgebung gab. Religionen setzten die Moral- und Verhaltenskodizes.
Vorzeitliche Menschen hatten vermutlich eine engere Verbindung mit den Naturwesen und waren bestrebt, im Einklang mit diesen wesenhaften Dienern Gottes zu leben. Das kann nur gelingen, wenn man deren Aufgaben und Zielsetzungen kennt und versteht.
Auch der Wunsch oder Versuch einer Kontaktaufnahme mit diesen für uns heute unsichtbaren Wesenheiten wurde vermutlich früher oder später ritualisiert. So weist z. B. die bei antiken Völkern verbreitete Orakeldeutung, bei der die „Götter“ befragt werden sollten, in diese Richtung.
Ein lebendiger Nachklang dieses Bemühens um Kontakte mit höheren Welten findet sich bis heute in der Heiligenverehrung christlicher Kirchen. Für bestimmte Bereiche (Wachstum auf den Feldern, Gedeihen des Viehs, Feuergefahr, Wassernot, Krankheiten uvm.), die früher vermutlich Wesenhaften (antiken Göttern) zugeschrieben wurden, sind nun die sog. „Heiligen“ zuständig. Auch sie werden mit Hilfe von Ritualen (Gebete, Anzünden von Kerzen, Prozessionen, Opfergaben heute meist in Form von Geld) angerufen und um Hilfe gebeten.
In der weiteren Entwicklung der religiösen Impulse entstanden Kulte. Diese bestanden aus Ritualen, Opfern, Gebeten, gemeinsamen Mahlzeiten, sakraler Musik, kultischem Tanz, Fasten usw. Die Menschen fanden sich zu bestimmter Zeit an einem vorgegebenen Ort zur Kultausübung zusammen. In den Religionen aller Völkern gibt es auch Frühlingsfeste, Prozessionen, Erntefeste, Feiern zur Sommer- und Wintersonnenwende usw.
Solche Rituale hatten und haben große Bedeutung für die Gruppenbildung in Gesellschaften oder religiösen Gemeinschaften. In zurückliegenden Jahrtausenden praktizierte eine gesellschaftliche Gruppe (Familie, Dorf, Stadt, Land) in der Regel die gleichen Kulte, bzw. hatte die selbe Religion. So gut wie alle Mitbürger trafen sich zu den regelmäßigen Andachtsstunden und feierten gemeinsam ihre Feste im Jahresablauf.
Heute fehlt diese Gemeinsamkeit weitgehend. Länder und Staaten werden zu reinen Zweckgemeinschaften in denen der Egoismus dominiert. Sonntagsreden von Politikern, die den Gemeinsinn beschwören, können die gemeinsame ethisch-religiöse Basis nicht ersetzen.
Die Systematisierung und Reglementierung der Kulte und ihrer Rituale führte im Lauf der Jahrhunderte zu Priesterschaften mit hierarchischem Aufbau. Die Priester entwickelten dann meist noch strenge, komplizierte Theologien, welche die wenigsten Gläubigen verstehen. Hinzu kommen nicht selten Kleidervorschriften, Fastenregeln, Speise- und Hygienevorschriften, besondere Feiertage, durch die sich eine religiöse Gruppe kennzeichnet, oder auch bewusst von anderen Gruppen absondert. Bei Migration werden Angehörige solcher Religionsgemeinschaften, die sich durch ihr Verhalten ausgrenzen, oft zu mit Sorge und in der Folge mit Misstrauen beäugten Außenseitern.
Die Entwicklung reglementierter, mit Vorschriften belasteter Religionen bringt die Gefahr, dass die Spontaneität, das innere Erleben, die persönlich geprägte Religiosität abgewürgt wird, und die Kulte in einer fein ausgearbeiteten, oft komplizierten, vielleicht prachtvollen, aber nur äußerlichen Form erstarren und ihren lebendigen, den geistigen Inhalt verlieren. Wie heißt es in der Bibel: „Denn der Buchstabe tötet, doch der Geist macht lebendig“. (2. Kor. 3,6).
Diese Neigung zur Erstarrung wurde oft erkannt und bedauert. In so gut wie allen Religionen gab und gibt es Bemühungen, durch innere Vertiefung, Mystik, Ekstase, Erweckungsbewegungen, reformatorische Bestrebungen usw., die erstarrten Formen zu sprengen und zum eigentlichen, dem geistigen Inhalt der Religion durchzudringen. Von den – meist konservativen – leitenden Persönlichkeiten der Religionsgemeinschaften oder Kirchen werden solche Ansätze – oft spontan und meist schwer kontrollierbar – in der Regel nicht gerne gesehen, vielleicht als zu „charismatisch“ abgetan, oder gar verketzert.