Im Jahre 1710 – also vor 300 Jahren – erschien in französischer Sprache in Amsterdam die Erstausgabe der „Theodizee das ist, Versuch von der Güte Gottes, Freiheit des Menschen, und vom Ursprunge des Bösen“ von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716). Weitere Ausgaben folgten, in deutscher und etlichen weiteren Sprachen. Die umfangreiche Schrift, die in barocker Manier ein großes Thema umfassend aufarbeiten wollte, wurde zu einem der meist gelesenen, aber auch einem der umstrittensten Bücher des 18. Jahrhunderts.
Um was handelt es sich?
Bei der Theodizee geht es um die „Rechtfertigung Gottes“; also um die Suche nach einer Antwort auf die sehr alte Frage „wie kann Gott so etwas zulassen?“
Leibniz kam seinerzeit zu der Ansicht, dass wir in der besten aller denkbaren Welten leben; denn „… wenn unter allen möglichen Welten nicht eine die beste wäre, Gott gar keine würde geschaffen haben.“ (4, S. 110).
Nicht alle waren und sind mit dieser Argumentation zufrieden. Besonders wenn durch Naturkatastrophen oder von Menschen begangene Verbrechen Tausende, Millionen allem Anschein nach unschuldiger Menschen grausam ums Leben kommen, zweifeln – früher wie heute – Viele an der Gerechtigkeit Gottes. Im zwanzigsten und beginnenden einundzwanzigsten Jahrhundert waren und sind es der Völkermord an den Armeniern, die Massenmorde und der Gulag der Bolschewiken, die Massenmorde und die KZ der Nationalsozialisten, die Vertreibungen aus den deutschen Ostgebieten, die Grausamkeiten der maoistischen Revolution und deren Kulturrevolution, die Völkermorde in Jugoslawien, in Ruanda, im Sudan oder im Kongo, der Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001, sowie vieles mehr, die Zweifel am Schöpfer und seiner Gerechtigkeit aufkommen lassen.
Das Erdbeben von Lissabon
Am Morgen des 1. November, dem Allerheiligentag des Jahres 1755, traf Lissabon, die Hauptstadt Portugals, ein Erdbeben das 85 % aller Gebäude zerstörte. Darunter königliche Paläste, Bibliotheken und die meisten Kirchen. Eine bis 15 Meter hohe Flutwelle brandete in die Mündung des Tejo, ließ Haustüren bersten und Mauern stürzen. Mit 30.000 – 90.000 Todesopfern (von 275.000 Einwohnern) gehört dieses Beben zu den schlimmsten Naturkatastrophen der neueren europäischen Geschichte. Neben Lissabon war auch die Algarve (im Süden des Landes) betroffen, und noch in Luxemburg, Schottland oder der Schweiz waren die Erdstöße stark genug, um Zerstörungen anzurichten. Eine Meereswelle riss in England, den Niederlanden und sogar bis Schweden Schiffe aus ihren Verankerungen.
Das Beben zwang die portugiesische Regierung zum schnellen Handeln. Der von der Aufklärung geprägte Premierminister, der spätere Marquês de Pombal (1699–1782), soll gesagt haben:
„Und nun? Beerdigt die Toten und ernährt die Lebenden“.
Er organisierte sofort die Rettungs- und Aufräumungsarbeiten. Zum Philosophieren über die geistig-religiöse Bedeutung blieb ihm keine Zeit.
Dafür ließ er Daten über den Ablauf des Bebens zusammentragen, so dass er heute als Vorläufer der modernen Seismologie gilt.
Auch der junge Philosoph Immanuel Kant (1724-1804) war von dem Beben fasziniert, sammelte alle ihm zugänglichen Informationen und suchte nach den natürlichen Ursachen.
Lissabon wurde großzügig und gut geplant wieder aufgebaut.
Wie konnte Gott das zulassen?
In ganz Europa war das Erdbeben von Lissabon ein Medienereignis. In vielen Sprachen erschienen Berichte und illustrierte Nachrichtenblätter. Heute, in einer Zeit, in der fast pausenlos Katastrophennachrichten aus aller Welt über die Bildschirme flimmern, können wir kaum mehr nachvollziehen, wie tief erschüttert damals viele Menschen waren[i].
Die Solidarität der Mitteleuropäer mit Lissabon war groß; denn so gut wie alle bedeutenden europäischen Handelsplätze standen mit der portugiesischen Hauptstadt in Verbindung. Die etwa 200.000 Todesopfer, die dieses Beben in Nordafrika gefordert hatte, fanden in Europa dagegen kaum Beachtung.
Dann löste dieses gewaltige Erdbeben, das Viele noch in Hunderten von Kilometern Entfernung selbst gespürt hatten, ein geistiges Nachbeben aus, das den Optimismus vieler Denker der Aufklärung erschütterte. Denn ausgerechnet ein streng katholisches Land wurde schwer getroffen, das sich in der ganzen Welt für die Verbreitung des Christentums eingesetzt hatte! Wie passte das zu den traditionellen Erklärungen der Geistlichen, die in dem Erdbeben eine „Strafe Gottes“ (5, S. 69) sahen?[ii]
Das dramatische Naturereignis brachte Philosophen und Literaten zum Grübeln. Über Jahrzehnte erschienen Werke zu dem Thema, von denen wir nur wenige beispielhaft erwähnen können.
Voltaire (1694-1778) verfasste ein Gedicht über „Die Katastrophe von Lissabon“, und sein Roman „Candide“ ist eine bissige Satire über Leibniz’ Idee von der „besten aller Welten“.
Von Kleist (1777-1811) stammt die durch Lissabon beeinflusste Erzählung „Das Erdbeben von Chili“ aus dem Jahr 1805, und Goethe (1749-1832) schildert in seinen Memoiren „Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit“ wie er als Sechsjähriger die Katastrophe erlebt hat:
„Durch ein außerordentliches Weltereignis wurde jedoch die Gemütsruhe des Knaben zum erstenmal im Tiefsten erschüttert. Am ersten November 1755 ereignete sich das Erdbeben von Lissabon, und verbreitete über die in Frieden und Ruhe schon eingewohnte Welt einen ungeheuren Schrecken. Eine große prächtige Residenz, zugleich Handels- und Hafenstadt, wird ungewarnt von dem furchtbarsten Unglück betroffen. Die Erde bebt und schwankt, das Meer braust auf, die Schiffe schlagen zusammen, die Häuser stürzen ein, Kirchen und Türme darüber her, der königliche Palast zum Teil wird vom Meer verschlungen, die geborstene Erde scheint Flammen zu speien: denn überall meldet sich Rauch und Brand in den Ruinen…“
Viele zweifelten an der von Leibniz propagierten „besten aller Welten“, an seiner Überzeugung, man könne mit der menschlichen Vernunft die Nützlichkeit der Natur nachvollziehen und so den guten, vernünftigen Gott erkennen. Das war in den Augen mancher Kritiker – voran Voltaire – nun vorbei.
Auch nach 1945, unter dem Eindruck der Gräuel des Zweiten Weltkrieges, wurden wieder ähnlich skeptische Gedanken geäußert. Theodor Adorno (1903-1969) sah eine Analogie zwischen dem Erdbeben von Lissabon und dem Holocaust. 1966 schrieb er in der Zeitschrift „Negative Dialektik“ das Erdbeben von Lissabon habe genügt, um Voltaire von der Theodizee Leibniz’ zu heilen (6).
Vielleicht hat die durch das Erdbeben ausgelösten seelischen Erschütterungen keiner schöner zum Ausdruck gebracht als Goethe:
„…Der Knabe, der dies alles wiederholt wahrnehmen musste, war nicht wenig betroffen. Gott, der Schöpfer und Erhalter des Himmels und der Erden, den ihm die Erklärung des ersten Glaubensartikels so weise und gnädig vorstellte, hatte sich, indem er die Gerechten mit den Ungerechten gleichem Verderben preisgab, keineswegs väterlich bewiesen. Vergebens suchte das junge Gemüt sich gegen diese Eindrücke herzustellen, welches überhaupt um so weniger möglich war, als die Weisen und Schriftgelehrten selbst sich über die Art, wie man ein solches Phänomen anzusehen habe, nicht vereinigen konnten“.
Wie kommt das Übel in die Welt?
Im 18. und 19 Jahrhundert, also im Zeitalter der Aufklärung, gab es starke antiklerikale Tendenzen; nicht zuletzt weil die Kirchen unwiderlegliche Tatsachen nicht akzeptieren wollten. Für Skeptiker erbrachte das Erdbeben von Lissabon nur einen weiteren Beweis für die Fragwürdigkeit der religiösen Lehren.
Die sehr alte Fragen nach dem Ursprung des Übels, die schon antike Philosophen wie Epikur (341 – 271 v. Chr.) stellten, war nach wie vor offen:
„Wenn Gott es beheben will und nicht kann, ist er unfähig, was für Gott nicht zutrifft;
wenn er kann und nicht will, ist er bösartig, was Gott auch fern liegt;
wenn er weder will noch kann, ist er sowohl bösartig wie unfähig und deshalb nicht Gott;
wenn er es aber will und kann, was allein Gott zukommt, woher kommt dann das Übel?
Oder warum behebt er es nicht?“ (2)
Jede Religion hat ihre Erklärungen zu der Existenz des Bösen. Unzählige Predigten, Diskussionen, Kommentare zur Bibel, zum Koran oder anderen religiösen Schriften suchen nach Antworten, die dann doch unbefriedigend bleiben.
Finden wir heute einen überzeugenderen Zugang in das uns Menschen Unverständliche, Unerklärliche; eine Antwort auf die Frage nach dem menschlichen Schicksal, der Gerechtigkeit Gottes und dem Ursprung des Übels?
Ich persönlich habe erfahren, dass vieles verständlicher wird, wenn man nicht nur von einem Erdenleben eines Menschengeistes ausgeht, sondern den Horizont durch die Reinkarnationslehre erweitert, mit dem freien Willen jedes Einzelnen rechnet und keine Einzelfallgerechtigkeit erwartet. Dann darf man auf eine umfassende, übergeordnete, göttliche Gerechtigkeit hoffen, die auch scheinbare Zufälligkeiten mit einschließt. Liest man dazu in der Gralsbotschaft „Im Lichte der Wahrheit“ (Buchbesprechung) im zweiten Band die beiden Kapitel „Verantwortung“ und „Schicksal“, so weitet sich das Verständnis für die großen Zusammenhänge. Die Zweifel an Gott und seiner Gerechtigkeit, denen kaum ein Mensch ausweichen kann, werden schwinden und der Überzeugung Platz machen, dass vieles, was uns heute noch unverständlich scheint, in einem großen, umfassenden Weltbild der Zukunft seinen Platz finden wird.
Lesen Sie dazu auch „Der gewalttätige Mensch“ , „Die ersten Schritte in der Anderswelt“ und „Gibt es Gott“ unter „Religionsgeschichte“
Literatur:
(1) Breidert Wolfgang, Die Erschütterung der vollkommenen Welt, Darmstadt, 1994.
(2) Epikur, Gott und das Elend der Welt, Leipzig, 1887, S. 123.
(3) Lauer Gerhard/Unger Torsten, Das Erdbeben von Lissabon und der Katastrophendiskurs im 18. Jahrhundert, Deutsche Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts, ISBN-10: 3-8353-0267-1/ISBN-13: 978-3-8353-0267-9.
(4) Leibniz Gottfried Wilhelm, Theodizee, Akademie Verlag, Berlin, 1996.(5) Schmidt Andreas, Wolken krachen, Berge zittern und die ganze Erde weint, Waxmann, Münster, 1999.
(6) http://de.wikipedia.org/wiki/Erdbeben_von_Lissabon.
(7)
http://www.goethezeitportal.de/fileadmin/PDF/ic/aktuelles/cfp/katatrophendiskurs.pdf.
Endnoten:
[i] Heute, bei einer vielfach größeren Weltbevölkerung, kommen im Durchschnitt 80.000 Menschen pro Jahr durch Naturkatastrophen um.
[ii] Für die portugiesischen Jesuiten war das Erdbeben eine Strafe für die von der Regierung verfügten Reformen, die der Kirche nicht behagten.