(Veröffentlicht 2015)
Der Atheismus ist „so alt wie das menschliche Denken, so alt wie der Glaube, und der Konflikt zwischen beiden ist ein ständiges Merkmal der abendländischen Zivilisation“ (2).
Tatsächlich gab es Zweifel an den Religionen schon in der Antike, und bereits frühe Philosophen, wie der Vorsokratiker Xenophanes drückten ihre Vorbehalte aus. (Siehe Kasten). Dabei hatte Xenophanes wohl Glück, denn Sokrates wurde ein Jahrhundert später, 399 v.Chr., wegen Gottlosigkeit zum Tode verurteilt.
„Stumpfnasig und schwarz: so seh’n Äthiopiens Menschen die Götter
Blauäugig und blond: so seh’n ihre Götter die Thraker
Aber die Rinder und Rosse und Löwen, hätten sie Hände
Hände wie Menschen, zum Zeichnen, zum Malern, ein Bildwerk zu formen,
Dann würden Rosse die Götter gleich Rossen, die Rinder gleich Rindern
Malen, und deren Gestalten, die Formen der göttlichen Körper,
Nach ihrem Bilde erschaffen: ein jedes nach seinem.“
Xenophanes (um 570 – 470 v.Chr.).Im 19. Jahrhundert hieß es dann – in Abwandlung dieses Zitats und von 1. Mose, 1,27 – sinngemäß:
„Der Mensch schuf Gott nach seinem Bilde.“ (3)
Im jüdisch-christlichen Abendland war über viele Jahrhunderte der Monotheismus (Eingottglaube) eine kaum in Frage gestellte Selbstverständlichkeit. Wie auch im islamischen Orient, wo man noch heute in Lebensgefahr geraten kann, wenn man am Islam – und damit an Allah – zu zweifeln wagt. Denn für einen Moslem gilt die Abkehr von seiner Religion als todeswürdiges Verbrechen.
Doch in Europa mussten sich die alten Überlieferungen und die Religionen als solche seit der Zeit der Renaissance und des Barock hinterfragen lassen. In einer jahrhundertelangen geistigen Auseinandersetzung, die dem Orient noch bevorsteht.
Zweifel am kirchlichen Weltbild
Im 16. Jahrhundert widersprach zuerst die „Neue Astronomie“ mit ihrem heliozentrischen Weltbild (Sonne im Mittelpunkt des Planetensystems) wörtlichen Auslegungen der Bibel.
Im 17. Jahrhundert widerlegte die „Neue Wissenschaft“ – die Naturwissenschaft – mit der Newton‘schen Mechanik die verfehlte Physik des Aristoteles. Dieser Heide wurde im christlichen Mittelalter fast wie ein Heiliger verehrt und seine Theorien galten Theologen als sakrosankt.
Die Pioniere des Neuen Weltbildes, wie Kopernikus (1473-1543), Giordano Bruno (1548-1600), Galilei (1564-1642), Kepler (1571-1630), Newton (1642-1726) waren alle Christen, die weder Zweifel am Schöpfer säen noch die Kirche angreifen wollten. Doch ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse kollidierten mit Lehren der Kirche oder gar mit der als unantastbar geltenden „Heiligen Schrift“ – der Bibel.
Die katholische Kirche, schon durch die Erfolge des Protestantismus im nördlichen Europa stark gebeutelt, sah sich angegriffen und ihren Herrschaftsanspruch gefährlich bedroht. Astronomen und Philosophen, die sich zum neuen astronomischen Weltbild bekannten, mussten die ganze Härte der Inquisition fürchten .
Kopernikus veröffentlichte erst auf dem Totenbett sein heliozentrisches Weltbild, das schon Aristarch von Samos im 3. vorchristlichen Jahrhundert angedacht hatte. Giordano Bruno endete auf dem Scheiterhaufen, und Galilei musste seinen Aussagen abschwören. Kepler und Newton wirkten in etwas toleranteren, protestantischen Regionen und entkamen der Inquisition der katholischen Kirche.
Auch die Philosophen der Aufklärung waren keineswegs alle gottlos. Man denke nur an einen ihrer berühmtesten, den als Atheisten gebrandmarkten Voltaire (1694-1778), der ein Leben lang gegen Aberglauben, Ungerechtigkeit und die Fehlleistungen der Kirche kämpfte. Seine letzte Erklärung vom Februar 1778 lautet:
„Ich sterbe in dem Bekenntnis zu Gott, indem ich meine Freunde liebe, meine Feinde nicht hasse und den Aberglauben verabscheue.“ (4).
Im 19. Jahrhundert entzündete sich zuletzt noch ein erbitterter Streit um Darwins Evolutionstheorie, die sich mit der biblischen Schöpfungsgeschichte nicht vereinbaren ließ. Auch Charles Darwin (1809-1882) war kein Atheist, eher ein gläubiger Mensch, der allerdings unlogische kirchliche Lehren nicht hinnehmen wollte (Vgl. „Darwin und die Evolution“, unter „Wissenschaft“).
So gerieten fortschrittliche Wissenschaftler bis ins 20. Jahrhundert in unnötige Auseinandersetzungen mit der Kirche und deren uneinsichtigen Repräsentanten. Diese hielten starr an alten, unverstandenen Überlieferungen als „religiösen Grundwahrheiten“ fest; schon weil sie die modernen, wissenschaftlichen Erkenntnisse oft nicht verstanden oder nicht verstehen wollten.
Wer längst unhaltbare religiöse Lehren in Frage stellt, oder sich von versagenden Religionen abwendet, wird manchmal noch heute als „Atheist“ gebrandmarkt.
Doch manche Wissenschaftler schlagen zurück. Sie stellen nicht nur kirchliche Dogmen in Frage, sondern verneinen auch gleich den Sinn von Religionen oder gar das Sein Gottes. Obwohl spätestens seit Immanuel Kant (1724-1804) hinreichend bewiesen ist, dass sich die Existenz Gottes mit materiellen oder philosophischen Mitteln weder beweisen noch widerlegen lässt. So ist auch der Atheist ein „Gläubiger“, nämlich einer der glaubt, dass es keinen Gott gibt. In letzter Zeit machte der Biologe Richard Dawkins (geb. 1941) mit seinem Buch „Der Gotteswahn“ (1), seiner „Foundation for Reason and Science“ und der von ihm unterstützten „Atheist Bus Campaign“ Schlagzeilen. Er würde am liebsten die Religionen ganz abschaffen, die leider in der Geschichte laufend versagt und oft nicht nur Gutes gebracht haben. (Vgl. „Wozu noch Religionen“, unter „Religionsgeschichte“).
Die Welterklärung
In der unbelebten wie der belebten Natur laufen unzählige, mehr oder weniger komplizierte, physikalische und chemische Vorgänge ab; neben und miteinander. Zum Verständnis dieser Naturprozesse fehlten in der Antike und im Mittelalter die Voraussetzungen. Brauchbare Theorien fehlten ebenso wie geeignete Untersuchungsinstrumente. Es schien aussichtslos, Ordnung in diese verwirrende Vielfalt der Naturvorgänge zu bringen.
Die notwendigen Welterklärungen lieferten die Religionen. Zuerst mit heidnischen Mythen und Sagen, dann mit Offenbarungen, die den Anspruch erhoben, den Willen Gottes zu künden. Wenn Keiner mehr weiter wusste, konnten sich die Priester zuletzt noch auf den „unerforschlichen Willen Gottes, der alles zum Besten führt“ zurückziehen. Mit solchen primitiven Welterklärungen konnten die Menschen leben, auch wenn Vieles unverstanden im Dunklen blieb.
Als rationale Welterklärungen gesucht, die alten Überlieferungen hinterfragt wurden, entstand schon in der Antike eine Naturphilosophie, die eine Spaltung zwischen Wissenschaft und Religion einleitete, wie sie in der Neuzeit so bedeutsam wurde. Denn mit zunehmender Kenntnis der Naturgesetze schrumpfte der Raum für den Wunderglauben der Religionen, der Wissenslücken schließen wollte. Der Biologe Ernst Haeckel (1834-1919) sprach von der „Wohnungsnot Gottes“.
Doch berechtigte Religionskritik ist nicht gleichbedeutend mit Atheismus!
Die Spaltung zwischen Wissenschaft und Religion
Diese Spaltung beruht auf einem Missverständnis: Denn Naturwissenschaften und Religionen sind zwei verschiedene Bestrebungen zur Wahrheitssuche mit unterschiedlichen Fragestellungen.
Die Religionen fragen nach den Ursachen und nach dem Sinn; die Naturwissenschaften beobachten die Erscheinungen.
Die Basis der Naturwissenschaften ist die Erforschung der Erscheinungen, ihr Arbeitsgebiet ist die Materie.
Echte Religiosität dagegen kann nur spirituelles Bemühen sein, Kontakte knüpfen zu Bereichen jenseits der Grenzen, die durch unsere körperliche Wahrnehmungsfähigkeit gezogen sind. Wissenschaftlichkeit und Spiritualität sind also zwei grundverschiedene Ansätze zum Verständnis der Welt und des Lebens. Die Macht der Religionen beginnt, wo die irdische Macht endet.
Heute sind die Naturwissenschaften hoch entwickelt und liefern ein scheinbar geschlossenes, schwer angreifbares materialistisches Weltbild. Die Spiritualität dagegen ist unterentwickelt, am Rande der Gesellschaft angesiedelt und hat es schwer, ernst genommen zu werden. Aus den heutigen Religionen ist die Spiritualität weitgehend verdrängt.
Das Dilemma des Glaubens
Von ihrem Ursprung her sollten Religionen die Brücke sein zwischen den „zwei Welten“: Der diesseitigen, der Welt der Materie, und der jenseitigen, der geistigen Welt. Schon in biblischen Zeiten gaben viele Menschen dieses Brücke-Bilden an andere ab, an Propheten, Seher oder Priester.
Als Mittler zwischen dem irdischen Gebiet und dem spirituellen Reich sollten herausgehobene Persönlichkeiten wirken, die über einen tieferen Einblick in das Schöpfungsweben oder über Jenseitskontakte verfügen. Wenn diese Persönlichkeiten ihre Aufgabe erfüllen, werden sie respektiert, haben Autorität. Es geht bei einer Berufung zur Priesterschaft also um erlebtes Schöpfungswissen, das sich theologischen Spitzfindigkeiten entzieht – jenseits von Animismus, Deismus, Pantheismus, Polytheismus, oder Monotheismus.
Hier aber liegt das Dilemma, die tiefe Problematik aller Religionen: Ein Mittler zwischen dem Geistigen und dem Irdischen muss ein spiritueller Mensch sein; am besten ein Begnadeter, von „höheren Mächten“ Auserwählter. Daraus ergibt sich die Frage, wer oder was entscheidet, dass es „höhere Mächte“ sind? Wer entscheidet, welche Quelle wahr ist? Die Antwort kann nur im Empfinden jedes Einzelnen liegen; denn Keinem kann die persönliche Verantwortung für seinen irdischen und geistigen Lebensweg abgenommen werden. Von Niemand!
Eine irdische Schulung mag für einen Priester nützlich sein und hilfreich, doch für einen geistigen Führer reicht sie nicht aus. Von diesem werden weit höhere geistig-spirituelle Qualitäten verlangt, als von durchschnittlichen Menschen. Können Priester diesen Anforderungen nicht genügen, müssen sie bei der Erfüllung ihrer eigentlichen Aufgabe versagen. Ihre Religion degeneriert, verliert an Glaubwürdigkeit. Verbrechen können im Namen des Glaubens geschehen, und enttäuschte Gläubige zweifeln zuletzt sogar an Gott selbst.
Weder Wissenschaftler noch Theologen können den Anspruch vertreten, die „Wahrheit“ zu kennen. Naturwissenschaftler finden allenfalls „Tatsächlichkeiten“, und die Theologie dreht sich mit ihren alten, unsicher tradierten und oft unverstandenen Überlieferungen seit Jahrhunderten im Kreise.
Denn die Wahrheit als solche lebt nur in Gott. Sie ist ewig und unveränderlich, unantastbar. Unser begrenztes, sehr lückenhaftes Verständnis der Wahrheit aber ist einem inneren Entwicklungsprozess unterworfen, der niemals enden wird. Auch Irrwege und Rückschritte sind nicht auszuschließen.
Warum die „neue Mode“ Atheismus?
Der Materialismus ist zur weltweit dominierenden Hypothese geworden, die neben sich kaum noch andere Ansätze duldet. Den Inbegriff des Materialismus liefert die Physik, deren Arbeitsmethode – die Verbindung von Beobachtung (Messung) und Rechnung – so ungeheuer erfolgreich war, dass sie alle Bereiche unseres Lebens tangiert, manchmal geradezu erdrückt.
Die materialistische Hypothese schließt außermaterielle Einflüsse aus. Sie will alle Erscheinungen der Welt aus den Eigenschaften der Materie heraus erklären. Demnach muss alles, was Einfluss ausübt auf unsere Welt, auch messbar sein, und was nicht messbar ist, gilt als unerheblich, vernachlässigbar, nicht existent. Raum für Spiritualität, Religiosität, oder gar für Gott lässt unser wissenschaftliches Weltbild nicht.
Auch nicht für das Konzept einer göttlichen Schöpfungsordnung, einer übergeordneten Ethik. So wenig wie für ein Weiterleben nach dem Tode, wo wir im Jenseits Rechenschaft ablegen müssen für unser Denken und Handeln im Diesseits.
Der Gedanke an den „Schöpfer des Himmels und der Welten“ ist Vielen unangenehm; denn er lässt vage empfinden, dass ER möglicherweise Forderungen an uns stellt, denen wir nicht genügen.
So verdrängt man solche Gedanken, geht den bequemen Weg des materialistischen Denkens, den die große Mehrheit längst eingeschlagen hat. Man verneint alles Höhere, in dem religiöse Menschen das Wesentlichere sehen, und wird Agnostiker oder Atheist.
Der heutige Mensch denkt vor allem an sich und sein persönliches Wohlergehen; vielleicht noch an seine Kinder und Enkel. Schon für das Geschick des Erdballs glaubt er sich nicht wirklich verantwortlich, und eine höhere, eine geistige Verantwortung fehlt.
Doch eine Gesellschaft ohne spirituell oder religiös begründete Ethik; eine Gemeinschaft, die sich nicht einer höheren Instanz gegenüber verantwortlich fühlt, ist zum Scheitern verurteilt.
Literatur:
(1) Dawkins, Richard, Der Gotteswahn, Ullstein, Berlin, 2007.
(2) Minois, Georges, Geschichte des Atheismus, Böhlau, Weimar, 2000, Seite 29 f.
(3) https://de.wikipedia.org>wiki>Atheismus.
(4) www.aphorismen.de.