Veröffentlicht in GralsWelt 40/2006
„Wenn Gott das Elend auf der Welt beheben will und nicht kann, ist er unfähig, was für Gott nicht zutrifft; wenn er kann und nicht will, ist er bösartig, was Gott auch fern liegt; wenn er weder will noch kann, ist er sowohl bösartig wie unfähig und deshalb nicht Gott; wenn er aber will und kann, was allein Gott zukommt, woher kommt dann das Übel? Oder warum behebt er es nicht?“
Epikur (371-241 v.Chr.)
DREI BEDEUTENDE PERSÖNLICHKEITEN
Das Christentum entstand in der Antike, und die – nach Jesus – bedeutendsten Persönlichkeiten, die das frühe Christentum formten oder herausforderten, und ihm zuletzt den Sieg über alle anderen Religionen des Abendlandes ermöglichten, lebten und wirkten im Altertum. Darunter der maßgeblichste Apostel, der bedeutendste Kirchenlehrer und der größte Ketzer.
Der maßgeblichste Apostel ist zweifellos Paulus. Er verbreitete das Christentum (gegen den Widerstand der Jerusalemer Urgemeinde) unter den Heiden (Nichtjuden); von seiner Hand stammen die chronologisch ältesten Teile des Neuen Testaments, und die von ihm vertretenen Auslegungen der Lehren Jesu bilden bis heute Grundlagen christlicher Theologie.
Der bedeutendste Kirchenlehrer ist Augustinus (354-430) mit seiner umfassenden Betrachtung der christlichen Theologie und seinem Bemühen, die Kirche gegen Abweichler zu verteidigen.
Den gefährlichsten Ketzer kennt man heute kaum noch: Es ist Marcion, der Gründer einer mächtigen Gegenkirche, die sich über Jahrhunderte behaupten konnte. Tiefere Denker waren bis in die Neuzeit von seinen Gedanken fasziniert. Viele die in vergangenen Jahrhunderten von der „reinen Lehre“ abwichen, waren von ihm beeinflusst, und die Kirche sah sich zu einer Auseinandersetzung mit den Marcioniten gezwungen, durch die sie sich selbst veränderte.
MARCION (MARKION, 85 – ca. 160)
Von Marcions Lebenslauf ist wenig überliefert, seine Schriften sind verloren, seine Lehren nur aus den Werken seiner Gegner zu erschließen (wie verzerrt das wohl sein mag?). Er war der Sohn des Bischofs von Pontus und ein vermögender Reeder. Als Christ erzogen, beschäftigte er sich schon in jungen Jahren mit der Bibel, damals noch kein festgelegter Kanon. Die urchristlichen Gemeinden lasen das Alte Testament (diese Bezeichnung gab es damals noch nicht) und verschiedene Schriften unterschiedlicher Art, die von Jesus und den Aposteln berichteten. Vermutlich schon früh erkannte Marcion die Unvereinbarkeit des Alten mit dem Neuen Testament, die später für seine religiösen Überzeugungen maßgeblich wurde, und bis heute viele Christen bewegt.
Um 140 kam Marcion nach Rom, wo er sich mit der dortigen christlichen Gemeinde zerstritt, seine eigene Gruppe bildete, und in erstaunlich kurzer Zeit[i] eine beachtliche Schar von Anhängern um sich versammelte.
Marcions Erfolg als Religionsgründer wird verständlich, wenn man bedenkt, dass die urchristlichen Gemeinden zunächst lose Gemeinschaften waren, getragen vom Glauben an die Bergpredigt, der Erwartung der baldigen Wiederkehr Christi, und dem Wunsch vieler Christen, ihr Leben zu ändern. Doch die ursprüngliche spirituelle Freizügigkeit des Urchristentums wurde nach relativ kurzer Zeit schon eingeschränkt, als Bischöfe die Macht übernahmen und Rituale und Kulte – oft heidnischer Herkunft – an Bedeutung gewannen. An die Stelle der persönlichen religiösen Erfahrung traten Bekenntnisformeln, die Geisttaufe Erwachsener musste einer ritualisierten Säuglingstaufe weichen, das kultische Abendmahl ersetzte das gemeinsame „Liebesmahl“. Marcion muss die unausgesprochene Sehnsucht vieler Christen nach mehr Spiritualität angesprochen haben, so dass sich seine Lehre im 2. und 3. Jahrhundert vom Euphrat bis zur Rhone verbreitete.
MARCIONS GROSSE KETZEREI
Durch den großen Anklang den Marcion seinerzeit fand, wurde er zu einem ernstzunehmenden Gegenspieler der jungen christlichen Kirche, zum ersten großen „Ketzer“[v].
Marcions Lehren erschienen der sich gerade formierenden frühkatholischen Kirche als völlig inakzeptabel. Die entscheidenden Widersprüche zu der kirchlichen Lehrmeinung waren:
* Marcion sah in Jesus den Gesandten (Sohn) des unbekannten Gottes, der den Menschen die Liebe seines Vaters brachte, durch die sie in das Reich des fremden, guten Gottes eingehen können.
* Das Alte Testament konnte für Marcion kein heiliges Buch der Christenheit sein, da es von dem „alten Gott“, dem Demiurgen spricht, während Christen sich dem von Jesus gepredigten, bislang unbekannten, „liebenden Gott“ verpflichten. Entsprechend lehnte Marcion das Alte Testament ab.
* Nach seiner Überzeugung hatten schon die Apostel (außer Paulus) die reine Lehre von Jesus verfälscht.
* Nach gnostischem Vorbild lehrte Marcion den Dualismus zweier Gottheiten. Einmal den Schöpfergott das Alten Testamentes, den Demiurgen, den manche Gnostiker (aber nicht Marcion) als gefallenen Engel deuten, dessen Verfehlung die Erschaffung einer uns fehlerhaft erscheinenden Welt war. Weit über ihm steht der bis zum Kommen Jesu unbekannte Gott der Liebe.
* Ziel des Menschen ist es, sich aus den Bindungen an die unvollkommene Welt zu befreien und einzugehen in das Reich dieses liebenden Vaters.
In Marcions Lehre liegt – wie in weiten Bereichen der Gnostik, deren Einfluss auf Marcion nicht wegzudiskutieren ist – eine Verneinung der diesseitigen Welt, von der es sich zu befreien gilt. Die Ablehnung des Alten Testamentes bedeutet auch eine Trennung vom Judentum, das Marcion nicht als eine Art Vorläufer des Christentums ansieht. So war für Marcion auch Jesus kein strenggläubiger Jude (wie man ihn heute oft sieht), der das Gesetz des Alten Testamentes erfüllen wollte, sondern ein religiöser Revolutionär, der etwas völlig Neues brachte, indem er einen fremden, bislang unbekannten Gott verkündete.
Für die erst im Entstehen begriffene Kirche wurden die Marcioniten bald zu einer ernsthaften Konkurrenz, die sie entschieden bekämpfte. Später verfolgten auch christliche Kaiser die Marcioniten, die in den Untergrund ausweichen mussten und bis zum 6. Jahrhundert verschwanden.
MARCIONS LEHRE
Theologen bezeichnen Marcion als Gnostiker und verweisen darauf, dass etwa zur gleichen Zeit, als er in Rom eintraf, dort der Syrer Cerdo (Kerdon) in typisch gnostischer Weise lehrte, dass die Welt nicht von dem unbekannten guten Gott, sondern von einem anderen, weniger guten vielleicht sogar bösartigen Schöpfergott geschaffen worden sei: Dem Demiurgen. In diese, von dem „bösen Gott“ geschaffene Welt ist der Mensch als ein Lichtfunke aus dem Reich des guten Gottes verbannt.
Doch Marcion war ein Christ. Er lehnte viele gnostische Sekten ab, mit ihren oft unausgegorenen mystischen Lehren. Aber er war tief beeindruckt von dem Unterschied zwischen den altjüdischen Lehren und der Heilsbotschaft Jesu:
Der Gott das Alten Testamentes erschien ihm als grausamer Rachegott, der die Ermordung von Menschen, das Abschlachten von Tieren, die Hinrichtung abgefallener Glaubensgenossen befiehlt, sogar die Todesstrafe verhängt gegen ungehorsame Söhne, oder Israeliten, die den Priestern widersprechen. Hat dieser altjüdische Gott nur die geringste Ähnlichkeit mit dem liebenden Vater, von dem Jesus spricht?
Für Marcion war folgerichtig der Gott (oder die Götter?[ii]) des Alten Testamentes der Demiurg, der die Welt geschaffen hatte, aus der die Menschen befreit werden müssen. Ist dieser Demiurg – wie manche Gnostiker dachten – gleichbedeutend mit Luzifer, dem gefallenen Engel, dem Herrn dieser Welt, dem Ursprung des Bösen? Nein sagt Marcion:
„Der Schöpfer der Welt ist gerecht! Deshalb ist er nicht böse; aber deshalb ist er auch nicht gut. Deshalb konnte er nur die ’schlimme Welt‘ schaffen, in der alles gerecht zugeht, aber nicht gut, in der gerichtet wird, aber nicht geheiligt, in der Rache herrscht, aber nicht die Gnade.“ (1, S. 12).
Im Evangelium Jesu, der frohen Botschaft der Erlösung, wird hingegen der „Gute Gott“ verkündet, der durch Jesus den Menschen helfen will, sich von den Bindungen an die sündhafte Welt zu befreien.
Damit löst sich für Marcion auch die Frage nach dem vielen Unheil in der Welt: Der Demiurg, der Schöpfergott, ist nicht notwendig böse, er vermochte nur keine bessere Welt zu erschaffen.
Die Erlösung vom Übel dieser Welt wird dem zuteil, der sich von ihr gelöst hat und in das Reich des wahren, des guten, des unbekannten Gottes eingegangen ist. Dazu verhilft ihm der Messias:
„Christus aber, der Sohn des fremden Gottes, hat die Liebe gebracht, die von der Welt erlöst, von allem in dieser Welt, auch von ihrer Gerechtigkeit.“ (1, S. 12).
Konsequent verwirft Marcion das Alte Testament – bislang die einzige „Heilige Schrift“, die alle Christen kannten, – und bringt einen neuen Kanon, der nur das Lukas-Evangelium[iii] und zehn Paulusbriefe enthält. Damit zwingt er die Kirche, sich auf ihre eigenen kanonischen Schriften festzulegen und trägt indirekt zu der Entstehung der heutigen Bibel bei.
Vom Leben in den vielen marcionitischen Gemeinden, von der Amtskirche mit Hass verfolgt, wissen wir nur wenig. Die Marcioniten feierten schlichte Andachten, bei denen Laien predigen und Frauen taufen durften. Sie lebten gewaltlos, vegetarisch und tranken keinen Alkohol.
Paulus, den Marcion schätze, stellte es den Christen frei, ehelos oder verheiratet zu leben (wobei er Ehelosigkeit empfahl). Marcion ging weiter und verlangte strikte Enthaltsamkeit, wohl um nicht immer wieder Geistfunken an die Materie zu binden. Diese extreme Forderung hat sicher zum Niedergang seiner Bewegung beigetragen.
MARCIONS BEDEUTUNG IN DER GESCHICHTE
Marcion war kein Prophet und kein Mystiker, aber ein radikaler Denker, dessen Gedanken über Jahrhunderte hinweg auf Wahrheitssucher anziehend wirkten. In den vielen, von den Kirchen abweichenden „ketzerischen“ Gruppen tauchten im Lauf der Jahrhunderte immer wieder marcionitische oder gnostische Ideen auf.
Das Christentum des Mittelalters hat die der klassischen Antike fremde Vorstellung vom „irdischen Jammertal“ vermutlich von Marcion oder anderen Gnostikern übernommen, und das zölibatäre Priester- und Mönchtum dürfte von seiner Forderung nach strenger Enthaltsamkeit beeinflusst sein.
In der strikten Scheidung das „Reiches des Guten Gottes“ von der vom Demiurgen geschaffenen „unvollkommenen Welt“, ging Marcion zu weit. Vermutlich sah er zu sehr die religiösen Kämpfe seiner Zeit. Einer Zeit, die politisch gesehen – unter den Kaisern Hadrian (117-138), Antonius Pius (138-161) und Mark Aurel (161-180) – eine vergleichsweise gute Zeit war im Römischen Reich. Als philosophisch geschulter, religiöser Mensch der Antike übersah er das harmonische Wirken der Natur, das Zusammenspiel der natürlichen Kreisläufe und die Schönheit der irdischen Schöpfung[iv], die darauf hinweisen, dass diese Welt von dem über allem Geformten stehenden himmlischen Vater ausgegangen ist, bei dem Liebe und Gerechtigkeit eins sind.
Doch die Weltgeschichte wäre vermutlich friedlicher und gewaltloser verlaufen, hätten christliche Kirchen sich weniger von der Vorstellung das strafenden, auf ewig verdammenden, rächenden Gottes des Alten Testamentes leiten lassen, und mehr den liebenden Vater der Evangelien gepredigt.
Fortsetzung „Religionen der Antike“ IX: Die Manichäer.
Literatur
(1) Friedell, Egon, Kulturgeschichte Ägyptens und des Alten Orients, DTV, München 1982.
(2) Hagl, Siegfried, Spreu und Weizen – im Dschungel der Esoterik, Gralsverlag, Eggersdorf, 2003.
(3) Harnack, Adolf v., Marcion, Das Evangelium des fremden Gottes, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 1960.
(4) Lüdemann, Gerd, Ketzer – die andere Seite des frühen Christentums, Radius, Stuttgart, 1995.
(5) May, Gerhard/Greschat, Katharina, Marcion und seine kirchengeschichtliche Wirkung, Walter de Gruyter, Berlin, 2002.
(6) Rudolph, Kurt, Die Gnosis, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1980.
(7) http.www.das-friedensreich.de/de/ausgaben02_07/markion.html.
(8) http.www.joerg-sieger.de/einleit/nt/07kan/nt97.htm.
Endnoten:
[i] Innerhalb eines Jahrzehntes war die von Marcion gegründete Kirche fast im ganzen Römischen Reich bekannt (4, S. 169).
[ii] Die verschiedenen Gottesnamen im Alten Testamen wie Jahwe, Elohin (Plural!), Adonai usw. werden in christlichen Bibeln einfach als „Gott“ übersetzt..
[iii] Aus diesem Evangelium des Lukas entfernte Marcion sog. „judaische“ Hinzufügungen. Die übrigen Evangelien waren nach seiner Ansicht von den „Jerusalemer Lügenaposteln“ (4, S. 174) zu sehr verfälscht.
[iv] Zur Frage der Schöpfungsharmonie vgl. GralsWelt Themenheft 11/2003 „Welträtsel und Naturwunder“ Teil I – VI.
[v] Das Wort „Ketzer“ gab es zu Marcions Zeiten noch nicht. Es stammt wahrscheinlich von dem Wort „Katharer“, deren Lehre zwar christlich, aber auch gnostisch bzw. marcionistisch war.