(Veröffentlicht in GralsWelt 38/2006)
DIE FRAGE NACH DER ZUKUNFT
Wer vorausdenkt oder plant tut dies einer von ihm erhofften Zukunft wegen. Aus diesem Wunsch heraus wurde das Fragen nach der Zukunft, um Vorherwissen zu erlangen, eine Praxis die fast so alt wie die Menschheit ist. Hier einige praktische Gründe:
„Auf heiligem Dreifuß auch sitzt die Prophetin und singt dem Hellenischen Volk die erhabenen Sprüche des Phoibos“
Euripides (480-406 v.Chr.)
* Für Jäger und Sammler war entscheidend, genügend Wild zu finden, dessen Aufenthaltsorte und Wanderwege oft nicht vorhersehbar waren. Vor Unwettern oder gar Feinden, musste man sich rechtzeitig in Sicherheit bringen können.
* Bei Nomaden hängt das Überleben davon ab, dass ausreichend Futter für die Herden nachgewachsen ist, dass bekannte Quellen nicht versiegt sind, und die Herden nicht in Wetterstürze geraten.
* Ein Bauer muss mit dem Wetter kalkulieren, das nur sehr begrenzt vorhersehbar ist, und Unwetter, Wild oder plötzlicher Schädlingsbefall können alle Mühen zunichte machen.
* Antike Städte und Staaten hatten ihre Seher, Priester, Wahrsager, die bei wichtigen Entscheidungen befragt werden mussten; schon um dem Volk das Gefühl zu geben, dass die Regierenden von höheren Einsichten geleitet würden.
* Selbst des Christentum, das Orakel und Götzenkulte als Lug und Trug verdammte, konnte populäre Vorhersage- und Wahrsagemethoden wie Astrologie, Bibelstechen, Handlesen oder Kartenlegen nicht gänzlich zum Verschwinden bringen.
* Auch heute fragt man wie eh und je nach der Zukunft. Denn wirtschaftliche wie politische Entscheidungen können schlimme Folgen zeitigen, wenn zukünftige Entwicklungen falsch eingeschätzt werden, usw. usf. Ebenso kann die Zukunft fatal aussehen, wenn in der Gegenwart unvernünftige Entscheidungen getroffen werden, die ja auch eine Form der Vorbestimmung sind.
Die Pythia – ein Trance-Medium
Im zweiten vorchristlichen Jahrtausend haben Ziegenhirten angeblich ein eigenartiges, verrücktes Verhalten der Tiere beobachtet, die in die Nähe einer bestimmten Stelle im Parnass-Gebirge kamen. Die Tiere benahmen sich wie betrunken. Auch Menschen, die sich dorthin begaben, erfuhren Bewusstseinsveränderungen. Dann galt dieser geheimnisvolle Platz als Naturheiligtum, vermutlich der Erdmutter Gaia geweiht, und besonders von Frauen besucht.
Im ersten Jahrtausend wurde Apollon zum Herrn dieser Kultstätte. Dazu musste er der Legende nach einen weiblichen Lindwurm erschlagen, Python genannt. In dem an Bedeutung und Größe wachsenden Heiligtum weissagte nun die nach dem von Apollon erschlagenen Drachen Pythia benannte Seherin. Plutarch (um 50 – 125 n.Chr.), selbst ein Priester des Heiligtums, berichtet:
„Denn das Gelass, in dem man jene, die den Gott befragen sich niedersetzen lässt, erfüllt sich mit einem Hauch – ähnlich den Düften, die edelste Parfüme entsenden, und die dem Allerheiligsten wie einer Quelle entströmen.“ (5)
Lange wurde dieser Bericht des Plutarch als Propaganda abgetan, bis der amerikanische Geologe Jelle de Boer zeigen konnte, dass es im Parnass noch heute Quellen gibt, aus denen Erdgase, z.B. Methan, sprudeln. Mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit darf man nach den neuesten Forschungen annehmen, dass eine Quelle im Tempel zu Delphi einst u.a. Äthylen ausströmen ließ. Äthylen ist ein noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts verwendetes Narkose-Gas. Sogar die Steinplatte wurde gefunden, auf der wahrscheinlich der Dreifuß der Pythia stand. In dieser Platte befindet sich eine Bohrung, durch die das einer unterirdischen Quelle entweichende Naturgas in einen bienenkorbförmigen Trichter (den „Omphalos“ ) strömen konnte. Zuletzt entwich dieses Narkotikum in den, für Profane verbotenen, geheimnisvollen Raum, in dem die Pythia in eine manchmal unkontrollierbare Trance versetzt wurde.
Im Winter musste das Orakel vier Monate lang schweigen, weil die eingefrorene Quelle kein Gas abgab. Zu dieser Zeit fanden Dionysische Feste statt (5).
Waren es früher Schamanen, Zauberer, Hellseher, Orakelpriester, Astrologen, auf deren Zukunftsschau gehört wurde, so sind es heute Steuerschätzer, Sachverständigen-Gremien, Börsen-Gurus, Trendscouts oder Zukunftsforscher, welche die Welt von morgen erkunden sollen, damit wir uns darauf vorbereiten können. Die Vorhersagemethoden haben sich geändert, der Wunsch, Zukünftiges vorauszuwissen ist geblieben.
Allerdings gibt es zwischen der Antike und der neueren Zeit einen gravierenden Unterschied: Die antiken Seher sollten den „Willen der Götter“ erkunden. In der Sprache der Esoterik könnte man sagen, sie suchten Verbindungen zu (höheren) Natur- oder Geistwesen und waren bereit, auf deren Rat zu hören. Wir hingegen vertrauen auf Beobachtungen, auf gemessene Daten, die in die Zukunft extrapoliert werden.
Aus der Chaostheorie geht eigentlich hervor, dass die Zukunft offen und mit wissenschaftlichen Methoden nicht klar vorhersehbar ist, schon weil sie u. a. vom nicht prognostizierbaren Verhalten vieler Einzelmenschen getragen ist.
Und auch die Zukunftsprognosen selbst können Einfluss auf das Verhalten vieler Menschen nehmen, so dass „self-fulfilling prophecies“ oder „self-destroying-prophecies“ entstehen. Doch das alles hindert weder Einzelmenschen noch Organisationen, immer wieder die Zukunftsfrage zu stellen, und – mit zum Teil nicht unerheblichem Aufwand – zu versuchen, das eigentlich Nicht-Entschleierbare zu entschlüsseln.
Bleibt die Frage, ob das mit modernen wissenschaftlichen Ansätzen besser gelingt, als mit den Methoden der Antike; ob die Extrapolation materieller Trends weiter führt , als transzendente Zukunftsschau.
DAS HEILIGTUM DES APOLLON
Etwa seit 800 v.Chr. entstand in bevorzugter Lage an einem Berghang, am Platz einer älteren Kultstätte, ein dem Gott Apollon geweihtes Heiligtum: Delphi. Es lag nach griechischer Vorstellung im Mittelpunkt der Welt und wurde auch zum Ort der Pythischen Spiele, vergleichbar den Olympischen, jedoch mit der Besonderheit, dass in Delphi neben athletischen Wettkämpfen auch musische Wettbewerbe stattfanden.
Am bekanntesten wurde das Orakel von Delphi, das über Jahrhunderte hinweg in höchstem Ansehen stand, so dass Delphi zentrale Bedeutung für das gesamte Griechentum erlangte. Seine größte Zeit hatte die umfangreiche Kultstätte, mit Tempeln, Amphitheater, Schatzhäusern, Gymnasium usw., etwa von 550 bis 480 v.Chr., doch hielt eine rege Bautätigkeit bis um 200 v. Chr. an; später ging es vor allem um die Erhaltung des Bestandes.
Die Mantik, die Wahrsagekunst, war im Alten Griechenland weit verbreitet, und vielfältig waren die Methoden, die Zukunft zu befragen: Vom Vogelflug bis zur Eingeweideschau, von der Beobachtung von Himmelserscheinungen bis zum Werfen von Losen.
DIE PYTHIA
In Delphi war es eine Priesterin des Apollon, die als Sprachmedium in Trance Fragen beantwortete und den Willen des Gottes verkündete, der angeblich direkt aus ihr sprach. Meist waren es einfache Fragen, die mit „ja“ oder „nein“ beantwortet wurden. Die unklaren Worte der Pythia, heute gerne als „Gestammel“ bezeichnet, bedurften der Auslegung durch Priester (vgl. Kasten „Die Schlacht bei Salamis“). Die längeren, gar vieldeutigen Orakelsprüche, die antike Autoren überlieferten, halten moderne Historiker zum großen Teil nicht für authentisch.
Für einen Ratsuchenden war der Gang zur Pythia, der Seherin im Dienste Apollons, eine Art Wallfahrt zu einem heiligen Ort, die der Vorbereitung und Verinnerlichung bedurfte. Der Sucher hatte dem Tempel Opfer und Spenden darzubringen, bevor er seine Fragen stellen durfte.
Erfüllten sich die Vorhersagen, und hatte der Gläubige dadurch einen Gewinn, so wurde eine weitere Spende erwartet, die zehn Prozent seines Gewinnes umfassen sollte. Nach gewonnen Kriegen floss auf diese Weise ein erheblicher Teil der Beute nach Delphi, das einen bedeutenden Schatz verwahrte.
Im Tempel des Apollon, dem Zentrum des kultischen Bezirks, saß die Pythia auf einem Dreifuß, dessen drei Beine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft symbolisierten, suchte transzendente Verbindungen und übermittelte die Weissagungen des Gottes. Dem Boden entströmten vermutlich narkotische Dämpfe und das Kauen von Lorbeerblättern (ein Lorbeerzweig ist das Abzeichen Apollons, des Herrn des Orakel) soll ihre Inspiration unterstützt haben. Meist konnte der Gott nur einmal im Monat (am 7. Tag) befragt werden.
Die Fragen des Krösus (Kroisos)
Am bekanntesten ist wohl die Geschichte (deren Authentizität schon im Altertum angezweifelt wurde) vom König Krösus, die antike Autoren wie Herodot und Aristoteles berichten. Krösus machte sich Sorgen wegen der anwachsenden Macht seiner östlichen Nachbarn, der Perser.
Um sicher zu gehen, sandte er zuerst Boten an verschiedene Orakel (z.B. Didyma, Dodona, die Oase Siwa) und ließ seine Gesandten am hundertsten Tag nach ihrer Abreise anfragen, was Krösus gerade tue.
Die im verschlossenen Kuvert dem Krösus überbrachten Antworten waren unbefriedigend, mit einer Ausnahme. Die Pythia in Delphi hatte geantwortet:
„Weiß ich doch der Sandkörner Zahl und die Masse des Meeres,
Selbst den Stummen vernehm‘ ich, und den nicht Sprechenden hör‘ ich;
Duft von Schildkröte wurd‘ mir bewusst, dem gepanzerten Tiere,
Die in ehernem Kessel gekocht wird, und Stücke von Lammfleisch.
Erz ist daruntergelegt, und Erz wird ruhn auf dem Kessel.“
Tatsächlich hatte Krösus eine Schildkröte und ein Lamm geschlachtet und in einem Bronzekessel mit Deckel gekocht.
Krösus war nun von der Weisheit der Pythia überzeugt und wagte die entscheidende Frager, ob er gegen die Perser in den Krieg ziehen solle. Die Pythia antwortete:
„Kroisos wird, überschreitend den Halys, zerstören ein Großreich.“
Krösus wagte den Krieg, verlor und geriet in Gefangenschaft. (546 v.Chr.). Die Pythia, die Krösus noch weitere Vorhersagen gemacht hatte, die sich in überraschender Weise erfüllten, bestand auf der Richtigkeit ihrer Prophetie, denn Krösus hatte ja ein großes Reich zerstört, allerdings sein eigenes. (2, S. 41).
DIE WORTE DES GOTTES
Zahlreich sind die überlieferten Sprüche der Pythia, die einst als „Worte des Gottes Apoll“ galten und entsprechende Beachtung fanden. Die Mehrzahl der Sprüche war anscheinend zutreffend oder hat dem Ratsuchenden weitergeholfen; anders ist das über Jahrhunderte anhaltende hohe Ansehen des Orakels, weit über den griechischen Sprachraum hinaus, nicht zu erklären.
Aufgeklärte Historiker meinen zwar, nicht die hellsichtige Pythia (meist eine einfache, zu keuschem Leben verpflichtete Frau mittleren Alters) hätte die Antworten empfangen, sondern eine kluge, gut informierte Priesterschaft habe es verstanden, geschickte, oft politisch motivierte Hinweise zu geben, die sich in ihrer Zweideutigkeit hinterher immer rechtfertigen ließen. Sogar einen Spitzeldienst traut man der delphischen Priesterschaft zu, der in wichtigen Hauptstädten das Neueste ausforschte. Auch von den Herrschenden sollen die Weissagungen nicht unbeeinflusst geblieben, vielleicht sogar gekauft worden sein. Parallelen zu modernen „Zukunftsforschern“ bieten sich an. Doch das alles ist so wenig zu beweisen, wie die Verbindung der Pythia mit dem Gott Apollon, an der auch „aufgeklärte“ Griechen kaum zweifelten.
Für Sokrates (um 470-399 v.Chr.) wurde die Aussage der Pythia, dass „keiner weiser sei als Sokrates“ bestimmend für sein Leben; versuchte er doch den Gott zu widerlegen, indem er die Weisheit seiner Mitbürger hinterfragte. Er machte sich gründlich unbeliebt, als er viele als klug geltende Zeitgenossen bloß stellte.
Der Rat des delphischen Orakels wurde auch eingeholt, wenn sich eine griechische Stadt eine neue Verfassung geben wollte, Reformen plante, oder Neugründungen erwog. So hatte Delphi erheblichen Einfluss auf die Städte und besonders auf die Auswanderung, die etwa zwischen 750 und 530 v. Chr. zur Gründung zahlreicher griechischer Niederlassungen an den Mittelmeerküsten führte. In Einzelfällen soll sogar eine Kolonie direkt aufgrund einer Anweisung aus Delphi entstanden sein, wie das von der Gründung Kyrenes berichtet wird. (2, S. 31).
Die Schlacht bei Salamis
In einem Fall größter historische Bedeutung spielte das Delphische Orakel eine wichtige Rolle.
Im Jahre 480 v.Chr. fiel ein gewaltiges Heer der Perser, zu Wasser und zu Lande, in Griechenland ein, um die schmachvolle persische Niederlage beim ersten Perserzug (490 v.Chr.) zu rächen. Das Ende der griechischen Freiheit schien nahe. Ein Opfertod von 300 Spartanern und 5.600 weiteren Griechen am Thermophylenpass konnte den persischen Vormarsch nur kurz aufhalten, und Athen schien verloren.
Die eilig befragte Pythia prophezeite „Ströme von Blut, Athen in Schutt und Asche, die Zerstörung vieler Tempel“, und riet zur Flucht (5). Die entsetzten Athener drängten auf eine zweite Weissagung, in der in dunklen Worten von „hölzernen Mauern“ und dem „göttlichen Salamis“ gesprochen wurde. Themistokles (525-460), der große Feldherr Athens, interpretierte die „hölzernen Mauern“ als Schiffe und überredete seine Mitbürger, nicht ins Ausland zu fliehen, sondern zu kämpfen. Tatsächlich wurde mit Hilfe einer Kriegslist die persische Flotte bei Salamis vernichtend geschlagen.
Historiker glauben bei diesem geschichtlich gut dokumentierten Fall weniger an die Kraft der Weissagung des Apollon, als vielmehr an Absprachen zwischen Themistokles und der Delphischen Priesterschaft.
ALLES HAT SEINE ZEIT
Delphi überstand den Zusammenbruch der griechischen Staaten und blieb vom Kelteneinfall verschont. Der römische Feldherr Sulla allerdings schreckte 87 v. Chr. nicht vor der Plünderung der Tempelschätze zurück. Die Römer hatten ja ihre eigenen staatlichen Orakel, z.B. die Sibyllinischen Bücher. Doch wenn diese nicht weiter wussten, wendete man sich doch wieder an Delphi. So erhielt sich das Ansehen der Pythia bis weit nach der Zeitenwende, und auch römische Kaiser fragten dort noch um Rat.
Selbst Christen, die entschiedenen Gegner aller Wahrsagekunst, nahmen das Orakel ernst und verbreiteten einen Orakelspruch, den Augustus (63 v.Chr. – 14 n.Chr.) im Jahre 12 erhalten haben soll:
„Ein hebräischer Knabe, größer als alle Götter, befiehlt mir,
Dieses Haus zu verlassen, in den Hades zurückzukehren.
Verlass also schweigend unsere Altäre.“ (2 S. 110).
Authentischer als dieser (vermutlich rückdatierte) Spruch, erscheint eine Antwort die Julian „der Abtrünnige“ (Kaiser von 361-363) erhielt. Dieser wollte die heidnischen Kulte wieder einführen, und auch das delphische Orakel neu beleben. Als seine Abgesandten nach Delphi kamen, wurde die heilige Stätte nur noch von wenigen Priestern und der Pythia betreut, deren Spruch lautete:
„Saget dem Herrscher, zerstört liegt die kunstgesegnete Stätte;
Phoibos besitzt kein Dach mehr und keinen prophetischen Lorbeer;
Verstummt ist der sprechende Quell, es schweigt das murmelnde Wasser.“ (2 S. 111).
Die „heidnischen“ Religionen und mit ihnen Delphi sind untergegangen. Geblieben ist der pythische Spruch: „Erkenne dich selbst“, als Inbegriff aller Philosophie.
Fortsetzung Religionen der Antike VI.
Lesen dazu auch unter „Merkwürdige Geschichten“ den Beitrag „Götter und Orakel – ein alter Hut?“.
LITERATUR:
(1) Bruit-Zaidman, Luise/Schmitt-Pantel, Pauline, Die Religion der Griechen, C.H. Beck, München, 1994.
(2) Giebel, Marion, Das Orakel von Delphi, Reclam, Stuttgart, 2001.
(3) Maaß, Michael, Delphi Orakel am Nabel der Welt, Jan Thorbecke, Sigmaringen, 1996 (viele gute Abbildungen).
(4) Mertz, Bernd A., Griechenland, Goldmann, München 1991.
(5) http://www.zdf.de/ZDFde/inhalt/17/0,1872,2079537,00.html.