(Veröffentlich Dezember 2014)
Die von Göttern und Orakeln geprägte Lebenswelt der Antike scheint uns heute überkommen, überwunden. Doch hatte sie einen wahren Kern – und sind wir darin heute wirklich so viel weiter als damals, haben sich vielleicht nur die Formen geändert?
Sokrates und die Transzendenz
Liest man in den Schriften der antiken Philosophen, so stellt man überrascht fest, dass damals auch die gebildeten Menschen, die Philosophen, an die antiken Gottheiten glaubten. Ein klassisches Beispiel wäre die „Apologie des Sokrates“ von Platon. In seiner Verteidigungsrede (Apologie) vor dem Hohen Gericht zu Athen begründet Sokrates sein Verhalten mit dem Orakelspruch eines Gottes. Die Alten Griechen suchten ja bei Lebensfragen Rat in den Tempeln der Orakelpriester, deren berühmtester in Delphi stand. (Vgl. „Das Orakel von Delphi“, unter „Religionsgeschichte“).
Ein Verehrer von Sokrates war kühn genug, das delphische Orakel über Sokrates (470–399 v. Chr.) noch zu dessen Lebzeiten zu befragen:
„Er fragte also, ob wohl jemand weiser sei als ich. Da sagte die Pythia, es sei niemand weiser.“ (4, S. 17).
Von da an war es die hauptsächliche Beschäftigung des Sokrates, seine Mitmenschen zu befragen, um herauszufinden, ob sich die Gottheit geirrt haben könnte. Dabei zeigte sich, dass Sokrates gegenüber seinen Mitbürgern insofern klüger oder „weiser“ war, als er sich – anders als die meisten – der Grenzen seines Wissens oder seiner „Weisheit“ bewusst war.
Stellt man sich vor, wie Sokrates – umringt von einer Schar von Schülern und Bewunderern – seine Mitbürger mit geschickten Fragen in Verwirrung stürzte, dann scheint es kaum verwunderlich, dass er sich damit nicht beliebt machte.
Einer seiner Schüler war der glänzende Redner und Feldherr Alkibiades (451–404 v. Chr.). Dieser war höchst charmant, schlau wie Odysseus und verrucht wie Thersites[1]. Alkibiades war der Inbegriff des verantwortungslosen Politikers, der nur an sich denkt. So hat er zum Niedergang Athens beigetragen. Für sein verräterisches Verhalten wurde die Philosophie seines Lehrers Sokrates verantwortlich gemacht. Zuletzt wurde der inzwischen greise Philosoph aus politischen Gründen[2] mit einer an den Haaren herbeigezogenen Anklage vor Gericht gezerrt[3].
Angesichts der drohenden Todesstrafe berief sich Sokrates auf sein „Daimonion“[4], seine innere Stimme, von der er sich in seinen Handlungen bestätigt fühlte. Im Glauben an diese ihm vermittelte höhere Einsicht verteidigte er sich in einer Weise, die die Richter noch weiter gegen ihn aufbrachte. Nach seiner Verurteilung ging er mutig in den Tod.
Wir heutigen Menschen haben oft Probleme mit einer solchen „Transzendenzgläubigkeit“, zu der wir kaum mehr Zugang finden.
Ein verlorengegangener Glaube
Es ist heute üblich, jeden Glauben an höhere Kräfte, Naturwesen[5], Gottheiten in das Reich der Mythologie und des Aberglaubens abzuschieben.
Der Glaube an Gott oder an die Unsterblichkeit der Seele zählt zwar zu den „Glaubensgewissheiten“, also den Grundlagen religiöser Lehren, doch das sind für moderne Menschen oft nur Lippenbekenntnisse, kaum von echter Überzeugung getragen.
In der Antike war das noch anders. Die Mehrzahl der Menschen, darunter Philosophen wie Sokrates und Platon, glaubten an Gottheiten, das Weiterleben nach dem Tode, mehrfache Erdenleben usw. Allem Anschein nach waren für die Menschen der Antike vielerlei Naturwesen, kleine und größere, oder die als „Götter“ bezeichneten „Führer der Elemente“ (Gralsbotschaft, Vortrag „Götter – Olymp – Walhall“) noch lebendige Gewissheit. Auch damals sahen die meisten Menschen keine Naturwesen oder gar die Götter, aber sie glaubten an sie und suchten in den Orakeln Wege zur Kontaktaufnahme mit höheren Mächten.
Hinter der Fassade vermenschlichter Götter
Bei der Lektüre griechischer oder germanischer Göttersagen ist man erstaunt, wie sehr diese Gottheiten Menschen ähneln; mit menschlichen Fehlern, Schwächen und sogar Lastern. Können das zutreffende Bilder höherer Wesenheiten sein?
Legt man das Wissen der Gralsbotschaft „Im Lichte der Wahrheit“ von Abd-ru-shin zugrunde, so spricht einiges dafür, dass wir diese Göttergestalten der Antike in zwei voneinander zu unterscheidenden Ebenen vermuten müssen:
Einmal die höheren Ebenen, in denen große Wesenhafte als „Führer der Elemente“ machtvoll beim Aufbau und dem Erhalt der Schöpfung wirken. Diese Sphären sind feiner, weit höher als der Erdenkreis. Einst konnten wohl begnadete Seher diese hohen Naturwesen erahnen, vielleicht sogar direkt wahrnehmen und von deren Aufgaben und deren Wirken berichten. Viele solcher Berichte von ganz verschiedenen Visionären aus verwehten Jahrtausenden lieferten dann unterschiedliche, vermutlich auch widersprüchliche Bilder. Dann rissen durch den zunehmenden Einfluss des reinen Verstandesdenkens die Kontakte zu diesen höheren Ebenen ab.
Später beschäftigten sich menschliche Empfindungen, Gedanken, Phantasien mit diesen Göttergestalten, die wohl schon längere Zeit nicht mehr wahrgenommen werden konnten. So entstanden auf einer erdnahen Ebene von Menschen geschaffene Gedanken- oder Empfindungsformen von diesen „Göttern“. Solche Vorstellungsbilder wurden dann wiederum von Sensitiven aufgenommen, die sie weiter veränderten, Lücken im Schauen mit eigenen Ideen schlossen, bis hin zu den Beschreibungen der Dichter. Zu Sokrates Zeiten sahen anscheinend noch etliche Menschen – mehr oder weniger deutlich – in Visionen solche (verzerrte) Abbilder von Gottheiten, und ihr Glaube an höhere Wesenheiten wurde dadurch für sie persönlich zur Gewissheit.
Nicht viel anders verhält es sich auch heute mit manchen religiösen Vorstellungen. Zum Beispiel bei Erscheinungen Marias als Gottesmutter oder Himmelskönigin, wovon Gläubige seit Jahrhunderten berichten. Es wird dann nicht die Urkönigin selbst wahrnehmbar, von der die Gralsbotschaft Kunde gibt, sondern höchstens – in seltenen Ausnahmefällen – ihr (geistiges) Strahlungsbild. In den meisten Fällen sehen die Seher sehr wahrscheinlich mur ein von menschlichen Gedanken und Empfindungen geformtes Abbild. In Einzelfällen konnten solche Bilder anscheinend sogar fotografiert werden; was dafür spricht, dass es sich nur um materienahe Verdichtungen und nicht um hohe, geistige Strahlungsbilder handeln dürfte.
Bewährte Orakelpriester und Sibyllen
Der Name „Sibylle“ ist zum Synonym geworden für eine Seherin. Ursprünglich handelte es sich vermutlich um einen Eigennamen. Auch die praktisch veranlagten Römer beriefen sich auf Orakelsprüche und zogen beispielsweise bei wichtigen Fragen die „Sibyllinischen Bücher“ zu Rate. Diese prophetischen Bücher wurden angeblich von der Sibylle von Cumae an den römischen König Tarquinius Priscus verkauft.
Für die Befragung der Orakelbücher waren Priester zuständig. Als im Jahre 83 v. Chr. eine Feuersbrunst diese Bücher vernichtete, scheute der römische Senat keine Mühe, um aus privaten Abschriften und aus in griechischen Tempeln Kleinasiens verwahrten Schriften eine neue Sammlung Sibyllinischer Weissagungen zusammenzustellen, die dann in Rom im Apollotempel aufbewahrt wurden. Dort wurden sie streng gehütet, bis sie der christliche Feldherr Stilicho (366–408) Anfang des 5. Jahrhunderts als heidnische Orakel verbrennen ließ.
Aus heutiger Sicht dürften die Orakel und die Schriftdeutungen die damit befassten Priester geradezu zu Korruption und Betrug eingeladen haben. Doch die Ratschläge der Priester müssen sich oft bewährt haben, denn die großen Orakeltempel waren viele Jahrhunderte lang hoch angesehen.
Joachim Fernau meint dazu: „Es ist ganz ausgeschlossen, dass das Gestammel der Phytia auch nur den geringsten Einfluss gehabt hat oder dass es unter den Priestern echte Mystiker gab. Dieses Kollegium war ein Kabinett von politischen Beobachtern, ein Gremium von Fachleuten der Weltpolitik und Meistern der Psychologie, gegen das ein vatikanisches Kardinalskollegium nur ein blasser Schatten ist.“ (1, S. 145).
Orakel machen Geschichte
Das bekannteste Beispiel für Orakel, die Geschichte machten, lieferten die Jahre 480/81 v. Chr.
Als eine zahlenmäßig weit überlegene persische Streitmacht in Griechenland eindrang, suchten die griechischen Städte bei dem Delphischen Orakel Rat. Der Orakelspruch war niederschmetternd:
„Ihr Unglücklichen! Flieht an das Ende der Welt, der schnelle Ares wirft alles nieder.“ (1, S. 146).
Doch die Athener gaben sich mit diesem Spruch nicht zufrieden. Sie erwirkten ein zweites Orakel, das hoffnungsvoller war. Dieses sprach von „hölzernen Mauern“, die der griechische Stratege Themistokles (525–460 v. Chr.) als Schiffe zu interpretieren wusste, sowie vom „göttlichen Salamis“. Tatsächlich konnte die griechische Flotte dann bei Salamis einen entscheidenden Sieg über die Perser erringen. –
Orientierungssuche damals wie heute
Die bei allen antiken Völkern gebräuchlichen Befragungen von Orakeln sind für uns heute schwer nachvollziehbar.
Doch sollten wir bedenken, dass auch wir noch heute bei ethischen Problemen geheiligte Bücher, wie die Bibel oder den Koran, zu Rate ziehen. Zum Beispiel bei der Frage nach dem Beginn und der Bedeutung des menschlichen Lebens, die im Zusammenhang mit der Präimplantations-Diagnostik[6] heiß diskutiert wird. Verschiedene Religionen kommen hier zu unterschiedlichen Auslegungen, und die Naturwissenschaftler können auch nur umstrittene Annahmen bieten.
Im Mittelalter glaubte man im christlichen Europa an die höhere Einsicht spiritueller Persönlichkeiten. So genossen Mystiker wie Hildegard von Bingen (1098–1179) oder Birgitta von Schweden (1302–1373) hohes Ansehen, und ihre Meinungen wurden von Päpsten und Königen ernst genommen. Der Einsiedler Niklaus von der Flüe (1417–1487) konnte durch sein Eingreifen sogar einen drohenden Zerfall der Schweizer Eidgenossenschaft verhindern. (5).
Manchmal wünscht man sich auch heute eine hoch angesehene, überparteiliche, spirituelle Persönlichkeit, die erforderlichenfalls mit einem allgemein beachteten, schwerwiegenden Wort die zerstrittenen politischen Parteien zur Ordnung rufen könnte.
Moderne Orakel
Befragungen der verschiedenen Orakel, Auslegungen heiliger Bücher, Versuche der Kontaktaufnahme mit höheren Wesenheiten, astrologische Horoskope usw. gehen – bewusst oder unbewusst – von einem geschlossenen Weltbild aus mit unveränderlichen Gesetzen.
In diesem Weltbild hängt alles mit allem zusammen, und das Größte spiegelt sich im Kleinsten. Scheinbar nebensächliche Ereignisse – Omina, Orakel usw. – lassen Rückschlüsse auf große Zusammenhänge zu. Zugespitzt ausgedrückt kann man in einem Wassertropfen den ganzen Kosmos mit seinen einheitlichen Gesetzen erfahren.
Religionen bevorzugen (nicht immer) die Vorstellung von einer einheitlichen Schöpfung, getragen von unverrückbaren Gesetzen, die im Größten wie im Kleinsten, im Diesseits wie im Jenseits unbeirrbar wirken.
Dabei schafft die verbreitete Vorstellung von einem willkürlich handelnden Gott einige Verwirrung. Dieser lässt angeblich geschehen, was er will, verdammt oder begnadet, wen er will, und überschreitet dabei seine eigenen Gesetze, wie er will. Der Mensch muss sich dieser göttlichen Willkür hilflos ausgeliefert fühlen, ohne große Möglichkeiten, sein persönliches Schicksal in eine positive Richtung zu wenden.
Die verschiedenen großen Konfessionen sind – trotz ähnlicher Glaubensgrundlagen, darunter der Glaube an Gott – untereinander zerstritten oder gar verfeindet und daher unfähig, bei Grundfragen des Menschseins einen gemeinsamen Nenner zu finden. So bleibt auch der gesetzmäßige Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung, zwischen geistigem Entschluss und irdischer oder transzendenter Folge, zwischen Karma und Schicksal für die Mehrzahl der Gläubigen ein unlösbares Rätsel.
Unser moderner Zugang zur Natur erfolgt mit Hilfe vieler wissenschaftlicher Disziplinen. Jede Fakultät erforscht dabei ihr spezielles Gebiet. Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen können sich oft nur schwer untereinander verständlich machen, und ihre Prognosen widersprechen sich.
Mit fast jeder neuen Erkenntnis wird die Welt komplizierter und unübersichtlicher[7]. Der umfassende Überblick, die großen Zukunftsvisionen fehlen, die einst die Priester, später die Philosophen liefern wollten.
So sind die für weittragende Entscheidungen nötigen Vorstellungen von der Zukunft der Menschheit und deren Ausgestaltung notgedrungen voller Ungereimtheiten und unauflösbarer Widersprüche.
Ob weise Orakelpriester der Antike, oder mittelalterliche Mystiker, mit Intuition und gutem Gespür für die Zeit und ihre Erfordernisse, die Herrschenden zuverlässiger beraten konnten als die modernen Auguren mit ihren wissenschaftlich verbrämten Prognosen?
Auf jeden Fall gilt die Feststellung: Der beste Rat nützt nichts – damals wie heute –, wenn Entscheidungsträger sich aus politischen Gründen nicht nach den Fakten richten wollen!
Lesen Sie dazu auch unter „Religionsgeschichte“ den Beitrag „Religionen der Antike I“.
Literatur:
(1) Fernau, Joachim, Rosen für Apoll, Herbig, Berlin, 1961.
(2) Gonick, Larry, The Cartoon History of the Universe I, Doubleday, New York 1990.
(3) Hagl, Siegfried, Die Apokalypse als Hoffnung, Droemer-Knaur, München, 1984.
(4) Platon, Apologie, Reclam, Stuttgart, 1961.
(5) Wikipedia-Enzyklopädie, Artikel „Niklaus von Flüe“.
Fußnoten:
[1] Thersites ist eine in jeder Beziehung hässliche Gestalt der Ilias. Er wird aufgrund seiner Schmährede von Odysseus heftig zurechtgewiesen und von Agamemnon mit dem Szepter geschlagen.
[2] Sokrates predigte eine Philosophie, die nach Ansicht konservativer Kreise zum Niedergang Athens beigetragen hatte. Doch für dieses „politische Verbrechen“ konnte er nicht angeklagt werden, denn es fiel unter eine Amnestie.
[3] In der Klageschrift hieß es: „Sokrates tut Unrecht und treibt Unfug, indem er unterirdische und himmlische Dinge untersucht und Unrecht zu Recht macht und dies andere auch lehrt.“ (4, S. 13).
[4] Im Altertum sah man im Daimonion einen persönlichen Schutzgeist bzw. eine innere Stimme von göttlichem Ursprung. Bei Sokrates stand das Daimonion im Gegensatz zum Logos (Vernunft). Das Daimonion erkennt demnach, was der Vernunft verborgen bleibt.
[5] In Island glauben angeblich mehr als die Hälfte der Menschen an Naturwesen, viele sollen sie sehen, und es gibt sogar eine amtliche Elfenbeauftragte.
[6] Bei der Präimplantations-Diagnostik (PID) werden künstlich befruchtete Embryonen zellbiologischen und molekulargenetischen Untersuchungen unterzogen. Die Untersuchungsergebnisse entscheiden darüber, ob der Embryo in die Gebärmutter eingesetzt oder verworfen wird. Dabei drängt sich die Frage auf, ob der Embryo schon ein Mensch ist, die verschiedene Religionen unterschiedlich beantworten.
[7] Die fast schon sprichwörtliche Suche nach der Weltformel (große vereinheitlichte Theorie) oder die Entdeckung des „Gottesteilchens“ (Higgs-Boson) machen unsere menschliche Welt nicht übersichtlicher, in der Politik, Ökologie, Ökonomie, Finanzwesen von Krise zu Krise taumeln.