(Veröffentlicht in GralsWelt 19/2001).
Der Erste Weltkrieg war für die Deutschen und ihren Staat ein Einschnitt, ein Bruch in ihrer Geschichte von kaum zu überschätzendem Ausmaß.
Lange Jahrhunderte musste dieses begabte und fleißige Volk in vielen Kleinstaaten zersplittert leben, die sich Großmächten zu beugen hatten. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam die lange herbeigewünschte deutsche Einheit, und mit ihr der Aufstieg des „Zweiten Deutschen Kaiserreiches“ zu einer respektierten Wirtschafts- und Militärmacht. So fand Deutschland endlich den ihm aufgrund seiner Größe, seiner wissenschaftlichen, künstlerischen, philosophischen und ökonomischen Leistungen zustehenden Platz in Europa und in der Welt.
Doch schon nach einem halben Jahrhundert war dieses junge Reich in einem ihm aufgezwungenen Krieg geschlagen, der Kaiser verjagt und eine vom Volk ungewünschte Demokratie etabliert, die mit den katastrophalen Folgen des Krieges nicht umzugehen wusste. Denn nach unsäglichen Leiden im Krieg brachte ein aufgezwungener Friedensvertrag nur neue Not, und die geforderten Reparationen verordneten Armut für Generationen…
Doch je größer die Not, desto mehr klammerten sich die Menschen in Deutschland an die Hoffnung auf neue deutsche Größe und flüchteten vor den bedrückenden Fakten in irrationale Erwartungen. Seit mehr als einem Jahrhundert hatten Dichter, Seher, Philosophen von der großen Aufgabe der Deutschen gesprochen. Sie hatten sich in Worten an ihr Volk gewandt, die Ausländer entweder nicht verstehen konnten, oder als Ausdruck deutscher Hybris sahen:
„Die alte Welt mit ihrer Herrlichkeit und Größe, sowie mit ihren Mängeln ist versunken durch die eigene Unwürde und durch die Gewalt eurer Väter (…) So seid unter allen neueren Völkern ihr es, in denen der Keim der menschlichen Vervollkommnung am entschiedensten liegt, und denen der Fortschritt in der Entwickelung der selben aufgetragen ist. Gehet ihr in dieser eurer Wesenheit zugrunde, so gehet mit euch zugleich alle Hoffnung des gesamten Menschengeschlechtes auf Rettung aus der Tiefe seiner Übel zugrunde (…) Es ist daher kein Ausweg: wenn ihr versinkt, so versinkt die ganze Menschheit mit, ohne Hoffnung einer einstigen Wiederherstellung.“ *)
Wie kam Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) zu solchen Äußerungen? Was gab ihm die Berechtigung, geradezu eine Parallele zu ziehen mit dem Volk Israel, das durch Leid und Not bereitet wurde, den Messias zu empfangen?
Und auf wen oder was warteten die Deutschen? Auf die Endzeit, das Kommen des Weltenrichters, das Zeitalter des Heiligen Geistes – oder nur auf einen Politiker, der Deutschland einigen und zu irdischer Größe führen sollte? Oder waren alle Hoffnungen durch den verlorenen Krieg (die Niederlage Preußens im vierten Koalitionskrieg 1806/07 gegen Napoleon) damals unerfüllbar geworden?
Uns fällt es heute schwer, diese Erwartungshaltung unserer Ahnen am Beginn des 19. Jahrhunderts zu verstehen. Diese lässt sich zwar in der deutschen Geschichte verfolgen, doch durch Tatsachen nicht begründen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wollten Historiker in den verschlungenen, widerspruchsvollen Pfaden der deutschen Geschichte einen folgerichtigen Zusammenhang finden. Sie meinten zu erkennen, dass ein gerader Weg von der romantischen Zukunftserwartung des 18. und 19. Jahrhunderts, über Bismarck, Richard Wagner, Friedrich Nietzsche und Wilhelm II. zu Adolf Hitler führt.
Doch diese Interpretation geht in die Irre: Kein deutscher Denker, kein Dichter, kein Philosoph des 19. Jahrhunderts hat Hitler erwartet, vorhergesehen oder gar herbeigewünscht. Die größten Deutschen erstrebten einen inneren, einen geistigen Aufbruch ihres Volkes und waren alles andere als glücklich, wenn die Entwicklungssehnsucht in industriellem Wachstum, Flottenbau oder Überbewertung des Militärischen ihre Erfüllung suchte. Kein Ansatz kann falscher sein als die Behauptung, dass die ganze neuere deutsche Geschichte Hitler vorbereitete, dass alle Deutschen sich nach Diktatur und Götterdämmerung sehnten, um dann, den Nibelungen gleich, in einem Weltenfeuer grandios unterzugehen.
Wahr ist jedoch, dass in einem entscheidenden Moment der Geschichte ein Mann die ganze unartikulierte Sehnsucht des deutschen Volkes intuitiv erfasste; dass er von der Erwartung wusste, in der die Deutschen lebten, die Etwas Großes, Hohes, Heiliges ersehnten. Und dass dieser Falschspieler es glänzend verstand, alle Hoffnungen auf sich zu beziehen, ja, sich als den erflehten Messias anzubieten.
Viele, allzu viele glaubten ihm. Seine Anhänger dienten ihm, wie man nur einem Gottgesandten nachfolgen darf. Und schließlich verschwendeten alle zusammen die konzentrierte Energie eines begnadeten Volkes in einem riesigen Feuerwerk der Zerstörung…
Endnote:
*) Johann Gottlieb Fichte „Reden an die deutsche Nation“, Atlas, Köln, o. J. Seite, 246.