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Gedenktage

Kapitulation

(Veröffentlicht in GralsWelt 35/2005)

Am 8. Mai 2005 sind sechzig Jahre seit der bedingungslosen Kapitulation der Deutschen Wehrmacht und der vernichtendsten Niederlage der deutschen Geschichte vergangen. Doch das deutsche Trauma ist längst nicht überwunden.

Wo stehen wir heute? Eine kritische Analyse.

Es war der zweite verlorene Weltkrieg innerhalb eines Vierteljahrhunderts und obendrein der größte Krieg aller Zeiten, der die traumatischen Erfahrungen des demütigenden Waffenstillstandes von 1918 wachrief und vertiefte.

Denn der Erste Weltkrieg war das primäre Unglück für Europa im 20. Jahrhundert. Übersteigerter Nationalismus, Konkurrenzneid, Überrüstung und Unvermögen aller Verantwortlichen – nicht allein Deutschlandes – entfesselten ihn.
Mit der dem Ersten Weltkrieg folgenden Friedensordnung begann der Abstieg Europas von der Weltspitze und das Ende des Kolonialismus. Ungerechte, von Habgier und Hass diktierte Friedensverträge (Versailles, St. Germain, Sèvres, Trianon u. a.) stellten die Weichen für den Zweiten Weltkrieg und zeitigten bis heute ungelösten Probleme, zum Beispiel im Nahen Osten.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Deutschlands Wirtschaft von einer Geldentwertung bis dahin unbekannten Ausmaßes zerrüttet, und unbezahlbare Reparationsforderungen der Siegermächte verordneten Armut für Generationen. Eine kurze Erholungsphase der Weltwirtschaft in den „Golden Twenties“ (den „goldenen 20er Jahren“) endete in der Weltwirtschaftskrise von 1929, die sogar die reichen USA in ihre tiefste Krise seit dem Bürgerkrieg stürzte. Das noch unter den Kriegsfolgen leidende Deutschland wurde schwer erschüttert, und die Voraussetzungen für den Erfolg des Rechtsextremismus wurden geschaffen. (Vgl. „Weimar musste nicht scheitern“)

Vor sechzig Jahren, also nach dem Zweiten Weltkrieg, mussten sich dann die bestürzten Deutschen mit ihrer jüngeren Geschichte auseinandersetzen und sich fragen, was sich da in zwölf schrecklichen Jahren, von 1933 bis 1945, ereignet hatte, und inwieweit jeder Einzelne zur schlimmsten Katastrophe der deutschen Geschichte beigetragen und sich womöglich persönlich schuldig gemacht hat.
Man fand für den durch das Versagen der Demokraten ermöglichten Aufstieg des Nationalsozialismus viele Gründe; doch keine Entschuldigung dafür, dass sich ein hochstehendes Kulturvolk so völlig zu militaristischen, chauvinistischen und rassistischen Ideologien hinreißen ließ.

Wie konnte das demokratisch gewählte Parlament der Weimarer Republik – darunter Konrad Adenauer (1876-1967) und Theodor Heuss (1884-1963) – am 23. 3. 1933 dem Kanzler Hitler eine Blanko-Vollmacht ausstellen (Ermächtigungsgesetz genannt), die es der nationalsozialistischen Herrschaft erlaubte, fast über Nacht die in Jahrhunderten erkämpften bürgerlichen Freiheiten in Deutschland zu beseitigen?

Reformunfähig durch das Trauma?
Heute, zwei Generationen nach der zweiten Großkatastrophe des 20. Jahrhunderts, ist es für einen Deutschen noch immer schwierig, ein objektives Bild der jüngeren deutschen Geschichte zu finden.
Ich habe den Eindruck, dass die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts in fast jedem Deutschen ein tiefes Trauma hinterlassen hat, dessen Aufarbeitung trotz Nürnberger Prozesse, Entnazifizierung, Umerziehung, Erforschung und Bekanntmachung der Nazi-Gräuel, demokratischem Neuanfang, beachtlicher Wiedergutmachungsleistungen und einer funktionierenden Demokratie, noch nicht abgeschlossen ist.

Dieses Trauma macht in der Gegenwart unser Land reformunfähig. Die Regierungen verhalten sich wie gelähmt, und die Parteien ergehen sich nach dem unrühmlichen Vorbild der Weimarer Republik in schändlichem parteipolitischen Hick-Hack, anstatt Probleme anzupacken. Und die Wähler möchten – anstelle der Bereitschaft zu freudigem Zupacken – unter allgemeinem Gejammer möglichst alles beim Alten lassen. Vor politischen Reformen und klaren Entscheidungen scheinen sie sich zu fürchten, so dass sich Politiker immer auf die mangelnde „politische Durchsetzbarkeit“ hinausreden können, wenn wieder einmal eine überfällige Reform (man denke nur an die „große Steuerreform“ und die dringend nötige „Rentenreform“) zerredet ist, bevor richtig darüber nachgedacht wurde.

Doch Leben ist Wandel, nicht nur in der Natur, und überlebensfreundlich für die Gesellschaft sind Gestaltung und Entwicklung, nicht Erstarrung!
Als die Städte nach 1945 in Trümmern lagen, die staatliche Ordnung nur rudimentär existierte, die Menschen hungerten und froren, 12 Millionen Vertriebene (von denen 2 Millionen auf der Flucht umkamen) eingegliedert werden mussten, gab es wenig Zeit zum Wehklagen, zu Forderungen an Behörden, Regierung, Staat, die selbst weitgehend macht- und hilflos waren. Man durfte dankbar sein, dass die Besatzungsmächte ein Minimum an Ordnung und Sicherheit aufrecht erhalten konnten.
Damals mussten alle anpacken, sich gegenseitig unterstützen, Trümmer wegräumen, neu anfangen, aufbauen, sich so gut wie möglich selbst helfen! Nach einigen, anfänglich fast hoffnungslos schwierigen Jahren ging es voran, kam sogar eine Aufbruchsstimmung.
Warum geht das heute nicht mehr? Liegt es an einer jungen Generation, die nichts anderes als wirtschaftliches Wachstum, Neuerungen, Innovationen und Aufschwung, Anspruchsdenken, und hohle politische Parolen erlebt hat?

Klage um Deutschland
Ich klage um Deutschland.
Nicht, weil es besiegt, zerstückelt, entmachtet ist,
ich klage, weil es sein Wesen preis gibt,
weil es seine Seele verrät.
Ich klage um Deutschland,
weil es seine Herkunft vergißt,
um jenes Deutschland,
wo ein Wort noch ein Wort,
Recht Recht, Treue Treue, Verrat Verrat war,
wo Korruption fremd und Opportunismus verächtlich war,
wo Pflicht höher stand als Genuß.
Ich klage nicht
um ein erträumtes, nie dagewesenes Land,
sondern ein miterlebtes,
was im Kaiserreich, der Weimarer Republik
und trotz allem im Dritten Reich und danach
noch vorhanden war
und erst jetzt, Jahr um Jahr entschwindet.
Friedrich Franz von Unruh (1893-1986)

Übrigens, falls jemand diese Aussagen für zu „rechtslastig“ hält, noch eine Anmerkung: Friedrich Franz von Unruh war kein Nationalsozialist. Durch seine Kriegserfahrungen wurde er vielmehr zum Pazifisten. Vor 1933 hat er als Schriftsteller eindringlich vor Hitler gewarnt (sein Bruder floh ins Ausland). Dass er selbst im Dritten Reich unbehelligt blieb, ist wohl der Tatsache zu verdanken, dass er als schwer verwundeter Offizier des Ersten Weltkrieges auf einige Rücksichtnahme rechnen durfte. 1975 erhielt er das große Verdienstkreuz der BRD.

Literatur: Friedrich Franz von Unruh, „Klage um Deutschland“, Hohenstaufen Verlag, Bodman Bodensee, 1973.

Die 60er Jahre – eine katastrophale Wende?
Oder hat das „deutsche Trauma“ in den 60er Jahren voll zugeschlagen, als damals in Politik und Wissenschaft eine heute als katastrophal zu bezeichnende Wende eingeleitet wurde?
Seither sind aufgrund der ideologisch begründeten „Reformen“ unsere Schulen und Universitäten zum großen Teil in die Zweitklassigkeit abgerutscht: Wer weiß zum Beispiel heute noch, dass bis weit ins 20. Jahrhundert 30 Prozent aller weltweit publizierten wissenschaftlichen Veröffentlichungen in deutscher Sprache erschienen?
Seither gilt der törichte Glaubenssatz vom „fortlaufenden wirtschaftlichen Wachstum“ – eine naturgesetzliche Unmöglichkeit. (Vgl. „Mehr, immer mehr, noch mehr“)
Seither will man mit laufend steigenden Steuern und Abgaben „die Belastungsfähigkeit der Wirtschaft“ erproben, und Staat und Behörden wirtschaften, als ob ihnen für alle Zeit unbegrenzte Mittel zur Verfügung stünden (und das nicht nur in Deutschland, sondern vielen weiteren Ländern).
Seither werden Schulden auf Schulden gehäuft, die sich angeblich aufgrund des „fortlaufenden Wirtschaftswachstums“ leicht tilgen lassen.
Seither propagieren Regierungen „Reformen“, die den Staat auf unbegrenzte Zeit mit laufend steigenden Kosten belasten, wobei man vorausschauende Planung vermisst – oder will jemand zum Beispiel bestreiten, dass die heutigen, vielleicht bald unlösbar werdenden Probleme der Rentenversicherung aufgrund der Populationsdynamik seit langem vorhersehbar waren?

Liegen die Ursachen für unsere heutige Situation in dem verdrehten Weltanschauungsmix aus Marxismus, Freud’scher Psychologie und unsinnigen Theorien (wie der Milieu-Theorie), mit der ein paar „moderne“ Professoren der „Frankfurter Schule“ die „68er Revolution“ ausgelöst haben?
Haben die von ihren Hochschullehrern fehlgeleiteten sogenannten „68er Revolutionäre“, heute oft selbst in Ämtern und Würden, tatsächlich eine ganze Generation so vernebelt, dass diese vor lauter Ideologie und Politik nicht mehr zielführend entscheiden kann?
War diese „68er Revolution“ – die meines Erachtens zum großen Teil eine Presse-Mache war – eine Initial-Zündung für den Hass auf Eltern und Großeltern, die für den Nazi-Terror verantwortlich gemacht wurden, sogar für den Hass auf Deutschland und alles Deutsche?

Am schlimmsten wirkt sich ein seit dieser Zeit anscheinend unaufhaltsam voranschreitender moralischer Verfall aus.
Heute scheint die Politik akzeptiert zu haben, dass Korruption und Demokratie ein Geschwisterpaar sind, und findet sich mit einem unerträglichen Prozentsatz von Arbeitslosen ab. Selbst die harsche Kritik des Bundespräsidenten prallt an Politikern wirkungslos ab, die Fehler nur beim politischen Gegner erkennen können.
Die Justiz scheint manchmal Verbrecher zu schützten und Verbrechensopfer zu übersehen oder gar zu demütigen. Rauschgifthandel, kriminelle Clane und organisiertes Verbrechen werden mehr und mehr ebenso wie AIDS als „gesellschaftliches Phänomen“ akzeptiert.

Die Wirtschaft kennt nur noch Gewinnmaximierung und beruft sich auf die von Politikern geschaffenen Standort-Bedingungen. Diese sind allerdings so beschaffen, dass Schwarzarbeit und Steuerhinterziehung von vielen als „Akt der Notwehr“ betrachtet werden; schließlich zahlen nach deren Meinung nur die Kleinen, Schwachen, Dummen brav ihre Steuern, die Reichen und Mächtigen entgehen dieser Verpflichtung elegant. (Wie sagte der Baron von Rothschild? „Unkenntnis der Steuergesetze schützt nicht davor, Steuern zu zahlen; Kenntnis sehr wohl“).

Manager, die auf Serien von Fehlleistungen zurückblicken, denen kaum Konstruktives einfällt, und die dafür auf das „Wegrationalisieren“ von Arbeitsplätzen stolz sind, sehen in den Aktiengesellschaften Selbstbedienungsläden für Vorstände und Aufsichtsräte. So dominieren „Gruppenegoismus“ und „erpresserische Lobbyarbeit“ (Bundespräsident Rau im Mai 2004).

Die Kirchen konnten sich noch nicht damit abfinden, dass sie ihren Status als moralische Instanz so gut wie verloren haben. Nun pendeln sie richtungslos zwischen christlicher Ethik, Engagement für Arme und Benachteiligte und Problemfeldern wie Geburtenkontrolle, Genmanipulation, Anerkennung der Homo-Ehe, Gender-Problematik, Multi-Kulti, Ausländer-Eingliederung und Verbreitung des fundamentalistischen Islams.

Die Bevölkerung sieht dem allem hilflos zu, zeigt Pessimismus und Zukunftsangst, zum Beispiel in Konsumverweigerung, aber am deutlichsten in der Zahl der Kinder: Hier liegt Deutschland unter den Mitgliedern der UNO auf einem der letzten Plätze; doch Kinder sind die Zukunft, und ein Land ohne Kinder hat keine Zukunft!

Dem Niedergang tatenlos zusehen?
Merkt vielleicht bald jemand, wohin die Reise geht? Kommt hoffentlich bald ein kräftiger Anstoß aus eigener Kraft, der uns zeigt, dass wir noch handlungsfähig, noch eine funktionierende Wirtschaft und Gesellschaft, ein leistungsbereites und leistungsfähiges Volk sind?

Warten wir auf ein Wunder? Oder sehen wir dem fortschreitenden Niedergang tatenlos zu – in der Erwartung, dass sich die Deutschen immer dann auf ihre traditionellen Tugenden besinnen, wenn ihre Nation zusammengebrochen ist, wie nach dem 30-jährigen Krieg, wie nach 1806 und wie nach 1945?
Muss es innerhalb weniger Jahrzehnte wieder so weit kommen?

Lesen Sie dazu auch in „Kurz, knapp, kurios“ Seite 408 den Beitrag „Ein Prophet des Massenzeitalters“ und darin vor allem das Kapitel „Einschränkung der Freiheit durch die Bürokratie“, sowie unter „Wirtschaft und Soziales“ die Beiträge „Früher war alles besser.“ und „Die Intelligenz tickt links“.