Zu Darwins doppeltem Jubiläum im Jahr 2009: Dem zweihundertsten Geburtstag und 150 Jahre „Über die Entstehung der Arten“
(Veröffentlich in GralsWelt 51/2009)
Am 12. Februar 2009 ist der zweihundertste Geburtstag von Charles Darwin (1809-1882), einem der einflussreichsten Naturwissenschaftler aller Zeiten für unser Weltbild. Am 24. November 1859 – also vor einhundertfünfzig Jahren – erschien Darwins epochales Werk „Über die Entstehung der Arten durch natürlich Zuchtwahl“ (On the Origin of Species by Means of Natural Selection). Diese grundlegende Arbeit machte Darwin schlagartig berühmt – und berüchtigt.
Seine Thesen widersprachen der Schöpfungsgeschichte der Bibel. Sie förderten das materialistische Denken, halfen den Naturwissenschaften sich von den Religionen zu emanzipieren, erweiterten die Kluft zwischen Wissenschaft und Kirche, und verlangten ein tiefgehendes Umdenken, das für viele schmerzhaft war.
Darwins Selektionstheorie
Es waren drei ganz einfache, für jedermann verständliche Annahmen, die eine Wende im Denken der Biologen bewirkten:
· Die Individuen einer Population sind nie ganz gleich. Es gibt immer (geringfügige) Unterschiede, die Variationen.
· Jedes Lebewesen produziert mehr Nachkommen, als in seiner natürlichen Umwelt ihren Platz finden. Ein großer Teil kann daher das fortpflanzungsfähig Alter nicht erreichen.
· Die größten Aussichten, ihre Erbeigenschaften an Nachkommen weiterzugeben, haben die am besten angepassten, also die „geeignetsten“ Individuen. So sorgt eine natürliche Auslese (Selektion) dafür, dass hauptsächlich die am besten auf ihren Lebensraum angepassten Lebensformen sich fortpflanzen, die weniger geeigneten ausscheiden. Das ist das viel zitierte, nicht sehr glücklich mit „Überleben der Passendsten (Tüchtigsten)“ übersetzte Schlagwort „survival of the fittest“.
Nach Darwins Theorie entwickelten sich im Laufe vieler Generationen im Wechselspiel von Variation und Selektion immer besser an ihre Lebensräume angepasste Lebewesen. In kleinen und kleinsten evolutionären Schritten bildeten sich dabei neue Arten, bis schließlich aus einem einfachen „Ur-Lebewesen“ (dem Eobionten) die ganze, unübersehbare Fülle des Lebendigen entstanden war, die wir heute bewundern. Diese Evolution geht weiter; sie wird kein kein Ende finden, so lange unsere Erde bewohnbar bleibt.
Kaum erschienen, löste „Die Entstehung der Arten“ schon heftige weltanschauliche Diskussionen aus, die sich besonders um ein Thema drehten, das Darwin noch kaum angesprochen hatte:
Der Mensch als Produkt der Materie
Am Ende seines Werkes „Entstehung der Arten“ deutet Darwin nur mit einem Satz an, dass auch der Mensch als Teil der Natur zu betrachten sei: „Neues Licht wird auf den Ursprung der Menschheit und ihre Geschichte fallen“.
Jahre bevor Darwin im Februar 1871 ein weiteres richtungweisendes Werk „Von der Abstammung des Menschen“ veröffentlichte, entzündete sich die Kritik an der Frage nach dem Ursprung der Spezies Mensch. Aus der Bibel ist zu entnehmen, dass der Mensch direkt aus der Hand Gottes hervorgegangen sei; daran gab es für die Gläubigen abrahamitischer Religionen keinen Zweifel.
Nun wird der Mensch als „Krone der Schöpfung“ von seinem Thron gestoßen und ein neues Selbstverständnis des Menschen als Teil der Natur erzwungen. Im darwinistischen Weltbild kann der Mensch keinen höheren Rang beanspruchen als den eines hoch entwickelten Primaten mit besonders großem Gehirn. Hohe Moralvorstellungen oder ein ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein darf man von einem „intelligenten Affen“ nicht erwarten. Rücksichtslosigkeit und Gewaltbereitschaft lassen sich dagegen als Folge des Kampfes ums Dasein erklären und rechtfertigen. (Vgl. „Der gewalttätige Mensch – ‚Opfer‘ seiner Entwicklung?“ unter Geschichte)
Gläubige Christen waren erschüttert über diese „Zerstörung des göttlichen Planes“. Naturphilosophie und Religion lagen mit einander im Krieg. Wonach sollte der Mensch sich ausrichten? Nach der „Heiligen Schrift“ oder nach dem „Gesetz des Dschungels“, dem „Kampf in der Natur“? Sein Gefühl, sein gesunder Menschenverstand lehnte sich auf gegen das Neue und fand Unterstützung bei den Kirchen.
Der Jahrhundertstreit
Einhundertfünfzig Jahre nach der Erstveröffentlichung von Darwins „Entstehung der Arten“ ist der Streit um die Evolutionstheorie nicht ganz abgeklungen.
Seither wurde viel geforscht, neue Erkenntnisse, wie zum Beispiel die Vererbungslehre, haben die Darwin’schen Ansätze grundlegend verändert.
Zu Darwins Zeiten galt die Vererbung erworbener Eigenschaften als selbstverständlich, was als widerlegt gilt. Heute spricht man von der „synthetischen Theorie der Evolution“ in der folgende Evolutionsfaktoren enthalten sind:
· Zufallsbedingte Mutationen (Erbänderungen) als wichtige Ursache für die von Darwin postulierten Variationen.
· Rekombination (Neukombination) von Erbanlagen bei der geschlechtlichen Fortpflanzung. Seit vielen Jahrhunderten werden Pflanzen- und Tierarten gezüchtet; die Gesetzmäßigkeiten der Vererbung wurden aber erst im 19. Jahrhundert entdeckt.
· Selektion (Auslese), also unterschiedlicher Fortpflanzungserfolg der Individuen einer Population aufgrund verschiedener Eignung.
· Genetische Drift (zufällige Schwankungen, die nicht auf Selektion beruhen).
· Isolation oder Separation. Populationen der selben Art werden getrennt (zum Beispiel auf Inseln) und entwickeln sich dann zu neuen Arten.
Hinzu kommen noch weitere Ansätze, die nicht von allen Forschern geteilt werden. So können anscheinend auch kulturelle Einflüsse wie die Nahrung oder traumatische Erlebnisse im Kindesalter das Erbgut im Gehirn dauerhaft verändern. (1 und 2).
Da die für die Evolution so wichtigen Mutationen (Änderungen im Erbgut) nach derzeitigen Theorien zufällig entstehen, wäre die heutige Vielfalt des Lebendigen einem Spiel des Zufalls zu verdanken; dem Wechselspiel zwischen Mutation und Selektion. Wären in einer wichtigen Entwicklungsphase einige „zufällige“ Mutation anders verlaufen, so hätte die Evolution des Lebens ganz andere Bahnen einschlagen können.
Vielen Menschen erscheint diese Betrachtung irgendwie unlogisch.
Nicht nur religiöse Menschen erleben sich selbst und die Welt nicht als Ergebnis eines Zufalls. Sinn-, Zweck- und Ziellosigkeit, die „Eigenschaften“ von Zufall scheinen nicht ausreichend für eine positive Entwicklung. Jeder Ingenieur weiß das.
So forschen viele nach den Ursachen und nach dem Sinn und Zweck des Ganzen. Das sind weitergehende, mehr religiöse Fragen, die dem menschlichen Bewusstsein entspringen. Ihre Beantwortung liegt außerhalb der Möglichkeiten der Naturwissenschaften.
Kritiker der Evolutionslehre
Die große Mehrzahl der Naturwissenschaftler akzeptiert die modifizierte Evolutionstheorie als die einzige logische Erklärung für die Entwicklung des Lebens im Verlauf der Naturgeschichte. Von Gegnern wird diesen Evolutionisten vorgeworfen, dass sie an ihrer materialistischen Hypothese trotz vieler Ungereimtheiten vor allem deshalb festhielten, weil die Evolutionstheorie ohne das Postulat von „übernatürlichen“ Einflüssen oder von einem Schöpfergott auszukommen versucht. Daher sind Naturwissenschaftler oft dem Atheismus-Vorwurf ausgesetzt.
Die Kritiker der Selektionstheorie finden sich zum Teil im Lager der buchstabengläubigen Fundamentalisten, der Kreationisten. Diese glauben nicht an eine naturgesetzliche Entwicklung des Lebens, sondern an einzelne Schöpfungsakte Gottes. Ob Jude, Christ oder Moslem, wer seine Heiligen Schriften wörtlich nimmt, muss an direkte göttliche Eingriffe in das Naturgeschehen glauben. Von Naturwissenschaftlern wird den Kreationisten eine theologische Verblendung vorgeworfen.
Vertreter der „Intelligent Design (ID) Theorie“ (vgl. „Ein konstruiertes Universum„, unter „Wissenschaft“) – darunter angesehene Wissenschaftler – fanden in der Natur viele Beweise, dass es sich bei den Lebewesen um durchdachte „Konstruktionen“ handeln müsse, welche nicht rein zufällig entstanden sein können. Eine „planende Intelligenz“ (etwa Naturwesen) müsste demnach die Evolution fördern und steuern. Allerdings ist die ID-Theorie bisher weder beweisbar noch widerlegbar und daher nicht als wissenschaftliche Theorie im strengen Sinne anerkannt.
Die teilweise heftigen Diskussionen zwischen Evolutionisten, Kreationisten und Vertretern der ID-Theorie gehen weiter.
Die Zukunft des Darwinismus
Charles Darwin starb im Alter von 73 Jahren am 19. April 1882. Er gilt als einer der bedeutendsten Naturwissenschaftler. Was wird dauern von seinem Werk?
Die Entwicklungsgeschichte, die Evolution des Lebendigen vom Einfachen zum Komplizierten, wird ein fester Bestandteil unserer Erkenntnis bleiben. Strittig sind die Mechanismen, welche den Aufstieg des organischen Lebens bewirkten: Ist es der „blinde Zufall“ oder ein „höheres Prinzip“?
Unser heutiges wissenschaftliches Weltbild ist ohne Darwin nicht denkbar. Doch die Wissenschaften entwickeln sich weiter, und die Evolutionsbiologie wird sich ebenso wandeln wie unsere Vorstellungen von der Naturgeschichte. Es ist daher ungewiss, ob am Ende des 21. Jahrhunderts noch eine in den Grundzügen auf Darwin beruhende Evolution gelehrt wird.
Vielleicht ist die darwinistische Evolutionslehre eines Tages so überholt wie heute der Kosmos des Ptolemäus, doch sie wird ein Teil der abendländischen Kulturgeschichte bleiben. Nach meiner Meinung werden Menschen kommender Jahrhunderte in dem großen Engländer einen Wissenschaftler sehen, der neue Fakten geliefert und wichtige Denkanstöße gegeben hat. Und den Namen Darwin wird man auch in Zukunft mit gleichem Respekt nennen, wie heute noch den des Aristoteles, dessen Physik längst widerlegt ist.
Lesen Sie hierzu auch unter „Wissenschaft“ „Darwin“ Teil 1 – 7.
Literatur:
(1) Der Spiegel, 29/2008, S. 139.
(2) Der Spiegel, 32/2008, S. 110.
(3) GralsWelt Themenheft 21/2008.