(Veröffentlicht in GralsWelt 23/2002)
D I E V E R S U N K E N E W E L T
Im Geschichtsverständnis der Menschen des 19. Jahrhunderts gab es einen fortlaufenden Aufstieg der menschlichen Kultur. Aus dieser Perspektive reiht sich Fortschritt an Fortschritt. Selbst Zusammenbrüche von Staaten und Zivilisationen nahmen sie so gelassen hin, wie man sich damit abfindet, dass ein großer, alter Baum eines Tages stürzen wird, um jüngerem Leben Platz zu machen. Demnach würde der Untergang von Babylon, Ägypten, Griechenland und Rom nur unterstreichen, dass das abgelebte Alte dem kraftvollen Jungen weichen muss. Auch das gehört zum notwendigen „Fortschritt“ und ist vor allem dann leicht zu bejahen, wenn man sich einem jungen, aufstrebenden Volke zugehörig fühlt.
Ganz so einfach und selbstverständlich wie im 19. Jahrhundert können wir die Weltgeschichte heute nicht mehr sehen. Das 20. Jahrhundert hat nicht nur viele Entdeckungen beschert, unzählige neue Erkenntnisse sammeln können, sondern auch bittere Erfahrungen gebracht. Die Geschichte der Menschheit lässt sich in unseren Tagen nicht nur weiter in die Vergangenheit zurückverfolgen, sie präsentiert sich auch komplizierter und unübersichtlicher als zuvor; denn mehr neue Fragen sind aufgetaucht, als alte beantwortet werden konnten.
Eine dieser ungeklärten Fragen ist die Wahrscheinlichkeit einer „vorsintflutlichen Hochzivilisation“ auf diesem Planeten. Mythen, Sagen, Visionen, religiöse Überlieferungen insbesondere, scheinen davon zu künden, und zahlreiche archäologische Funde legen die Vermutung nahe, dass wir längst nicht alle versunkenen Kulturen kennen, ja, dass Jahrtausende vor unserer Zeitrechnung unbekannte Reiche bestanden, die kulturell und zivilisatorisch kaum weniger entwickelt waren als das Europa der Renaissance. Zeit genug war vorhanden, wenn man bedenkt, dass der Mensch sich in den letzten fünfzig- oder gar hunderttausend Jahren körperlich kaum weiterentwickelt hat, also vor vielen Jahrtausenden nicht weniger intelligent und geschickt war, als heute.
Gab es ein vorsintflutliches Reich ?
Wenn von einer noch unentdeckten, vorzeitlichen Kultur gesprochen wird, so wird das Wort „Atlantis“ fallen. Der Klang dieses Namens fasziniert, wirkt fast verzaubernd, als könne er uralte, aus dem Tagbewusstsein entschwundene Erinnerungen wecken; Menschheitserinnerungen an eine längst verwehte, grandiose Zeit. Mehr als 25.000 Bücher über Atlantis soll es geben; doch sein Rätsel harrt noch immer der Lösung, und trotz aller Forschungen wissen wir kaum mehr als Platon, von dem eine der ältesten der bekannten Überlieferungen stammt.
Folgt man Platon, so befand sich im Atlantik einst eine große Insel, auf der Menschen einer hochentwickelten Zivilisation lebten. In seinen beiden, „Timaios“ und „Kritias“ benannten Dialogen weiß Platon viel von der hohen Kultur, dem Reichtum und der Macht der Atlanter zu berichten. Seine Erzählungen klingen so unglaublich, dass sie von Philologen und Archäologen in das Reich der Fabel verwiesen wurden.
Nicht weniger erstaunlich als die von Platon beschriebene Hochzivilisation der Atlanter scheint auch deren Untergang. Ungeheure Erdbeben und Überschwemmungen ließen während „eines einzigen schlimmen Tages und einer einzigen schlimmen Nacht“ die Insel im Meer versinken.
Was soll man von Platons Atlantis-Bericht halten?
Darüber gehen bis heute die Meinungen nach wie vor auseinander. Nicht wenige Forscher nehmen Platon ernst und glauben, dass es die atlantische Kultur gegeben habe. Andere wieder, darunter bekannte Wissenschaftler, sehen in Platons Atlantis-Erzählungen nur eine Sage, über die zu diskutieren sich nicht lohnt.
Platon berichtet, dass der Athener Solon von ägyptischen Priestern die Kunde von Atlantis, erhielt, die Solons Enkel Kritias folgendermaßen überliefert:
„…Denn damals konnte man das Meer dort noch befahren, es lag nämlich vor der Mündung, die bei euch ‚Säulen des Herakles‘ heißt, eine Insel, größer als Asien und Libyen zusammen, und von ihr konnte man damals noch nach den anderen Inseln hinüberfahren und von den Inseln auf das ganze gegenüberliegende Festland, das jenes in Wahrheit so heißende Meer umschließt. Erscheint doch alles, was innerhalb der genannten Mündung liegt, nur wie eine Bucht mit engem Eingang; jener Ozean aber heißt durchaus mit Recht also und das Land an seinen Ufern mit dem gleichen Recht ein Festland. Auf dieser Insel Atlantis bestand eine große und bewundernswerte Königsgewalt, die der ganzen Insel, aber auch vielen anderen Inseln und Teilen des Festlandes gebot; außerdem reichte ihre Macht über Libyen bis nach Ägypten und in Europa bis nach Tyrrhenien. Dieses Reich machte einmal den Versuch, mit geeinter Heeresmacht unser und euer Land, überhaupt das ganze Gebiet innerhalb der Mündung mit einem Schlag zu unterwerfen. Da zeigte sich nun die Macht eueres Staates in ihrer ganzen Herrlichkeit und Stärke vor allen Menschen: allen anderen an Heldenmut und Kriegslist voraus, führte er zuerst die Hellenen, sah sich aber später durch den Abfall der anderen genötigt, auf die eigene Kraft zu bauen, und trotz der äußersten Gefahr überwand er schließlich den herandrängenden Feind und errichtete Siegeszeichen; so verhinderte er die Unterwerfung der noch nicht Geknechteten und ward zum edlen Befreier an uns innerhalb der Tore des Herakles. Später entstanden gewaltige Erdbeben und Überschwemmungen, und im Verlauf eines schlimmen Tages und einer schlimmen Nacht versank euer ganzes streitbares Geschlecht scharenweise unter die Erde, und ebenso verschwand die Insel Atlantis im Meer. Darum kann man auch das Meer dort jetzt nicht mehr befahren und durchforschen, weil hochaufgehäufte Massen von Schlamm, die durch den Untergang der Insel entstanden, es unmöglich machen…“
(Aus Platons „Timaios“).
Was sagen Esoteriker?
Ein beliebtes Argument gegen die untergegangene Hochkultur ist, dass bezeichnenderweise die Esoterik dieses Thema übernommen habe, und mit so unmöglichen Behauptungen aufwarte, dass man sich nicht erst die Mühe machen brauche, diese zu widerlegen.
Denn nicht selten berufen sich Esoteriker auf „altes, verlorenes“ Wissen, das es nachzuvollziehen bzw. wiederzuentdecken gelte; auf Kenntnisse aus einer verwehten Zeit, in der mehr Weisheit vorhanden war, und auch gelebt wurde, als in historischen Epochen.
Tatsächlich spielt in esoterischen Lehren Atlantis eine Rolle. Theosophen z. B. glauben aufgrund übersinnlicher Eingebungen, dass vier Großkatastrophen die Erde heimsuchten, und sprechen von den untergegangenen Reichen Atlantis (im Atlantik) und Lemuria oder Mu (im Pazifik oder im Indik).
Diese Lehren stammen von Helena Petrowna Blavatsky (1831-1891), der Begründerin der Theosophie. Der Science-Fiktion-Autor W. Scott-Elliot veröffentlichte ausführliche Beschreibungen von Atlantis und Lemuria, die anderen Theosophen wie Annie Besant (1847-1933) und Charles W. Leadbeater (1847-1934), sowie auch dem Anthroposophen Rudolf Steiner (1861-1925) als Vorlagen gedient haben sollen (6, S. 366). Deren Behauptungen stießen schon im 19. Jahrhundert auf entschiedene Ablehnung von Historikern, die sich bemühten, die theosophischen Schriften als schlecht zusammengestellte Plagiate zu entlarven (4, S. 67). Solche Auseinandersetzungen haben das Atlantis-Thema in Verruf gebracht und dazu geführt, dass viele Wissenschaftler es bis heute ablehnen, sich damit zu befassen.
Auch Edgar Cayce (1877-1945), der bekannteste amerikanische Hellseher, hat von Atlantis gesprochen. Nach seinen Schauungen gab es dort eine Hochzivilisation, deren Technik der unseren zumindest gleichwertig, wenn nicht überlegen war. Überreste sollten sich finden lassen, und eines Tages könnten sogar Teile von Atlantis wieder aus dem Meer auftauchen, wie schon in römischer Zeit verheißen:
„Zwar ist sie noch fern, doch einst kommt die Zeit,
Wo Oceanus wird entfesseln die Welt;
Erscheinen wird dann ein gewaltiges Gebiet,
Neue Teile der Welt entsteigen der Flut,
Nicht Thule ist mehr alleräußerstes Land.“
Seneca, Medea (7, S.17).
Derartige Hinweise sollte man nicht grundsätzlich ablehnen. So wurden, wie wir noch berichten werden, aufgrund der Angaben Cayces bei Bimini Ruinen im Meer entdeckt, die möglicherweise die einstige Existenz von Atlantis belegen.
Sogar verschiedentlich veröffentliche Rückerinnerungen an Atlantis können – bei aller Vorsicht, mit der man übersinnlichen Erfahrungen begegnen muss – interessante Hinweise enthalten.
Wir werden hier auf die esoterischen Lehren nicht eingehen, sondern versuchen, Fakten zu finden. Deren Wertung ist dann noch immer spannend genug, voller pro und contra, so dass es jedem Leser überlassen bleibt, sich sein eigenes Bild zu machen.
Das versunkene Inselreich
Wie wir in dieser Serie zeigen werden, spricht viel dafür, dass es vor der Sintflut eine Hochkultur gegeben hat, die über technische Fähigkeiten, astronomisches und geographisches Wissen verfügte, wie es in Europa erst nach der Renaissance erreicht wurde. Spuren einer hochzivilisierten Technik finden sich auf verschiedenen Kontinenten, und die zahlreichen Funde sind so überzeugend, dass man bei allen Vorbehalten der Fachwelt mit der Existenz einer einst bedeutenden Zivilisation rechnen sollte.
Klaus Aschenbrenner, der die Atlanter als „Antiliden“ bezeichnet, fasst den heutigen Forschungsstand folgendermaßen zusammen:
„Wahrscheinlich diente den Antiliden die Azoren-Großinsel als Ausgangsbasis und erster Herrschaftssitz. Später entstand im Bereich der Bahamas ein zweites Zentrum, von dem aus die gesamte Karibik und die Küsten Mittel- und Südamerikas beherrscht wurden. Diese Gebiete bildeten die Ernährungsgrundlage der Antiliden. Die Anden lieferten ihnen ebenso wie der Mittelmeerraum wertvolle Erze und andere Rohstoffe, wie etwa weißen Marmor. Von jenem Mittelmeergebiet aus hatten einst die Vorfahren der Antiliden ihre Reise westwärts ins Ungewisse angetreten. Jahrtausende später beherrschten die Antiliden als technische Hochzivilisation den Atlantik und die angrenzenden Länder, zu einem Zeitpunkt, als die übrigen Völker die ersten Schritte auf dem Weg von eiszeitlichen Jägern und Sammlern zu Ackerbauern und Viehzüchtern unternahmen“. (1, S. 148).
In dieser Aussage ist manches höchst hypothetisch; z. B. die Herkunft der Atlanter, die Lage ihrer Hauptstadt (Poseidia?), und die Größe ihres Reiches. Doch wie gesagt, vieles spricht für die Existenz einer vorsintflutlichen Kultur, die in einem Kataklysmus untergegangenen ist, ob sie nun Atlantis, Antilia oder sonstwie geheißen haben mag. –
Fortsetzung Teil II
Lesen Sie zum Thema „Atlantis“ unter „Buch- und Filmbesprechungen“ den Beitrag „Die Schlange am Firmament“, „Das Geheimnis der Portolane“ unter „Merkwürdige Geschichten“ und in „Kurz, knapp, kurios“ auf Seite 466 „Die rätselhafte Kosmologie der Dogon“.
Literatur:
(1) Aschenbrenner, Klaus „Die Antiliden“, Herbig, München 1993
(2) Berlitz, Charles „Das Atlantis Rätsel“, Droemer-Knaur, München 1978
(3) Cayce, Edgar Evans „Edgar Cayce on Atlantis“, Howthorn Books, New York 1968
(4) de Camp „Versunkene Kontinente“, Wilh. Heyne, München 1975
(5) Hope, Murry „Atlantis“, Zweitausendeins, Frankfurt, 1994
(6) Miers, Horst E. „Lexikon des Geheimwissens“, Wilh. Goldmann, München 1982
(7) Seneca, L. Annaeus „Medea“, übersetzt von Max Schmitt-Hartlieb, Kurt Vieweg, Leipzig 1929