(Veröffentlicht in GralsWelt 33/2004)
In esoterischen Kreisen ist die Ansicht verbreitet, dass dem Menschen schon am Beginn der Menschwerdung bewusst war; dass der eigentliche Mensch – seine Seele oder sein Geist – nach dem Ablegen seines Erdenkörpers weiterhin existiert, dass es somit ein „Diesseits“ und ein „Jenseits“ gibt. Diese Menschenseele kann sich dann entweder in feineren Ebenen (der sog. Feinstofflichkeit) weiterhin bewegen und entwickeln, oder auch für ein weiteres Erdenleben in einem neuen Erdenkörper wiedergeboren werden.
„Gilgamesch – um Enkidu, seinen Freund,
weinte er bitterlich, läuft herum in der Steppe:
‚Werd ich nicht, sterbe ich, ebenso wie Enkidu?
Harm hielt Einzug in meinem Gemüte,
Todesfurcht überkam mich…
Aus dem Gilgamesch-Epos, 9. Tafel (10)
Ethnologische Forschungen zeigten, dass für Naturvölker ein Weiterleben nach dem Erdentode ebenso selbstverständlich scheint, wie die Präexistenz des eigentlichen Menschen (einem Innenwesen, einer Seele, einem Geist, einer Geistpersönlichkeit, wie immer man den Wesenskern eines Menschen bezeichnet haben mag) vor seinem jeweiligen Erdensein.
Für solche naturverbundenen Menschen hat der Tod dann nicht nur Schrecken, sondern ist der – allerdings mit starken Veränderungen verbundene – Übergang, die „Geburt“, in eine andere Welt.
Daher wirkt es überraschend, dass dieses Wissen bei frühen Hochkulturen nicht so selbstverständlich zu finden ist, wie man erwarten möchte. Das lässt die Frage zu: Hatten sich schon die ersten Zivilisationen von der natürlichen Erfahrung abgekoppelt, die frühe Menschen vermutlich hatten, wurden schon damals aus uns noch unbekannten Gründen die Verbindungen zu den feineren Schöpfungsebenen abgerissen, und begann sich der Mensch auf Grund dessen vor dem Ableben zu fürchten?
Das nachtodliche Sein
In antiken Kulturen wird in der Regel das „Leben nach dem Tode“ in ziemlich trauriger Weise geschildert.
Im Alten Orient und im östlichen Mittelmeer erzählte man, dass die Götter im „Paradies“ oder im „Olymp“ wohnen, während die Seelen der gewöhnlichen Sterblichen in ein Schattenreich, den „Hades“ kommen, in dem sie freudlos dahinvegetieren müssen. Nur einzelne, auserwählte Menschen konnten nach dem Tod in das Reich der „Götter“ gelangen; die übrigen mussten in das unterirdische Reich der Schatten.
Vermochte ein Jenseitsreisender dieses Schattenreich von der Erde aus zu betreten und mit Abgeschiedenen zu sprechen, so klagten diese über ihr trauriges Dasein und rieten den Lebenden, jede Stunde zu nützen, die sie in Licht und Sonne auf Erden weilen dürfen.
So ist z.B. das Bild vom Leben nach dem Tode, das Homer in seinen Dichtungen zeichnet, und das die Vorstellungen ganzer Geschlechterfolgen geprägt hat, von düsterer Trauer geprägt, im Gegensatz zu der betonten Freude der Alten Griechen am bunten Leben auf Erden.
Die Seelen verlieren demnach beim Tod ihr Bewusstsein und die Erinnerung an irdische Freuden, ohne neue zu gewinnen. Bezeichnend sind die Worte des in der Unterwelt weilenden Achilles, der – von Odysseus zum Bewusstsein erweckt – schmerzvoll bekennt:
„Ich wollte lieber bei einem armen Mann Tagelöhner sein als König aller Toten in der Unterwelt“ (6, S. 698).
Ähnlich düster ist auch die „Hel“, eine der Totenwohnstätten der germanischen Mythologie.
Im Ägypten des Alten Reiches konnten nur der Pharao und sein Hofstaat in den Himmel kommen; und erst im Mittleren Reich durften sich auch wohlhabende Bürger mumifizieren lassen und eine „ewige“ Grabstätte bekommen.
Auch die Alten Juden hatten nur eine vage Vorstellung vom Jenseits. Im Alten Testament kennt man „Scheol“, den Aufbewahrungsort der Toten, und die Religionsausübung ist in erster Linie darauf gerichtet, im Diesseits alle religiösen Vorschriften zu erfüllen. Zwar fehlt eine ausgeprägte Jenseitshoffnung, doch scheinen die Toten immerhin aufgehoben in „Gottes Hand“ oder in „Abrahams Schoß“.
Der Erfolg des Christentums beruhte nach Meinung mancher Religionswissenschaftler daher zum Teil darauf, dass hier jeder, ob reich oder arm, ob Mann oder Frau, Herr oder Sklave, einen Platz im Paradies bekam. Er musste nur an die Worte von Jesus Christus glauben, die auch ihm einen Platz im Paradies verhießen.
Jedenfalls ist nicht verwunderlich, dass die Menschen der Antike nach Möglichkeiten suchten, diesem freudlosen nachtodlichen Sein als menschliches Wesen zu entrinnen, und statt dessen als vergöttlichte Unsterbliche aufzusteigen in das Paradies, den Wohnsitz der „Götter“.
Historisch gesehen waren die Bewohner Mesopotamiens – Sumerer und Babylonier – die Ersten, die Wege zur Unsterblichkeit suchten.
Sumer und Babylon
Schon vor 10 oder 15.000 Jahren war im mesopotamischen Raum, in Nordafrika, Kleinasien, Arabien, eine Frühreligion verbreitet, die sich auch über den indischen Raum bis zur Mongolei erstreckte. Deren wahrscheinlich monotheistische, später wohl henotheistische *) Kulte wurden von Nomaden praktiziert, die keine festen Wohnsitze und keine Tempel kannten.
Religionswissenschaftler sprechen von der „semitischen Religion“ (ca. 12.000 bis 2.000 v.Chr.), in der z.B. Ahnen als spirituelle Wesen verehrt wurden, wie noch heute von Naturvölkern. Die Gläubigen dieser Altreligion sollten ihren Pflichten gegenüber Gott nachkommen, so dass ihnen durch gute Taten das Tor zum Garten Gottes geöffnet wurde (9). Eine entwickelte Erlösungslehre fehlte.
Diese tempellose Religion gilt als Ursprung aller späteren Religionen, insbesondere der drei monotheistischen Weltreligionen (Judentum, Christentum, Islam).
Der Babylonische Turm
Die Sumerer, die in Mesopotamien die älteste Hochkultur schufen, entwickelten vor 5.000 Jahren eine monumentale Sakralarchitektur, die später den Babyloniern als Vorbild diente.
In der Bibel (1. Mose, 11) ist der Turmbau zu Babel ein Symbol für die Hybris der Menschen, die Gott herausfordern.
Für Archäologen ist dieser Turm der Babylonier eine „Zikkurat“, der größte und prächtigste der vielen Tempel-Türme, die in den Städten Mesopotamiens erbaut wurden.
Eine Zikkurat ist eine Art Stufenpyramide, mit aus Lehmziegeln gemauerten Terrassen, die durch Treppen verbunden und mit einem Tempel gekrönt sind. Diese eigenartige Tempelarchitektur hat zu der Vermutung Anlass gegeben, die Ureinwohner Mesopotamiens – ob die Sumerer, deren Existenz angezweifelt wird, oder ein anderes Volk – seien aus einem Bergland eingewandert. Gewohnt, ihre Götter auf Berggipfeln zu verehren, hätten sie in den flachen Ebenen künstliche „Berge“ errichtet, um darauf Tempel zu bauen. Von den bekannten Bauwerken jüngerer Zeit sind die Stufenpyramiden von Teotihuacan (Zentralmexiko) einer Zikkurat am ähnlichsten.
Hinter den Mauern der ersten Städte entwickelten sich dann differenziertere Religionsformen, wie die sumerische (ca. 9.000 bis 3.000 v.Chr.) und die babylonische (ca. 4.000 bis 500 v.Chr.).
Für unsere Betrachtung ist von geringer Bedeutung, in wie weit die Babylonier religiöse Vorstellungen von den Sumerern übernommen haben, die eine andere Sprache sprachen und einer anderen Ethnie angehörten. Auch die babylonischen Götter, ihre Namen und ihre Bedeutung, sind mehr für Religionswissenschaftler von Interesse. Wie in anderen antiken Religionen gab es verschiedene Hauptgötter, die auch die politische Situation erkennen lassen: Nach der Ausweitung eines Herrschaftsbereiches wurden regelmäßig lokale Götter zu allgemein anerkannten Landesgottheiten (1, S. 49). Seit Jahrtausenden wird die staatsbildende, herrschaftserhaltende Kraft von Religionen genützt, deren Gebote oft irdisches Gesetz waren.
In Babylon als Beispiel galt Marduk, ursprünglich der Stammesgott der Amoriter, vermutlich seit der Regierungszeit von König Hammurapi (1726-1686 v.Chr.) als oberster Gott.
Als Ober- und Unterägypten durch Menes vereinigt wurden (ca. 3.000 v. Chr.) wurde der Sonnengott Re (oder Amun-Re) zum Gottkönig und Weltherrscher (1, S. 64).
Die Römer verlangten in allen Teilen ihres Reiches eine, oft nur formale, Anerkennung des „kapitolinischen Jupiter“, und noch die Europäer des 19. Jahrhunderts wollten ihre Kolonialvölker zum Christengott bekehren.
Die babylonische Sprachverwirrung
Die in der Bibel (1. Mose 11) geschilderte Sprachverwirrung hat in dieser Form natürlich nicht stattgefunden, obwohl in der „Weltstadt“ Babylon Menschen verschiedener Ethnien mit unterschiedlichen Sprachen aufeinander trafen. Man kann allenfalls noch über symbolische Bedeutungen diskutieren, z.B. den Verlust an Gemeinsamkeit oder der Möglichkeit, sich über gemeinsame Ziele zu verständigen. Die Bibelstelle hat auch Anlass gegeben zu Diskussionen, ob es eine gemeinsame „Ursprache der Menschheit“ gegeben habe. Im Mittelalter glaubte man, es könne sich dabei nur um Hebräisch handeln, der Sprache in der nach damaliger Meinung die Zehn Gebote auf den angeblich von Gott ausgehändigten Tafeln geschrieben waren. Bekannt ist der Versuch von Friedrich II.(1194-1250) von Hohenstaufen, Säuglinge ohne jegliche Ansprache aufwachsen zu lassen; in der Erwartung, sie würden von sich aus hebräisch sprechen.
Heute wird von manchen Linguisten eine gemeinsame Ursprache der Menschheit vor 60 – 100.000 Jahren vermutet.
Die Babylonier, von ihren Hauptgöttern durch eine gewaltige Kluft getrennt, hatten als eine Art Zwischeninstanz noch Schutzgötter als persönlichen Gott jedes Menschen (vergleichbar dem Schutzengel der Christen oder den Heiligen?), der für den von ihm Betreuten bei den Hauptgöttern eintrat. Wurde ein Mensch von seinem Schutzgott verlassen, so war dieser Arme den Attacken der Dämonen ausgeliefert und konnte durch Zauberei geschädigt werden.
Die Schöpfungsmythen der Babylonier waren den Lebensumständen der mesopotamischen Bauern angepasst, die auf Bewässerungsackerbau angewiesen waren. Hacke und Korb, die Werkzeuge für den Ackerbau wie für die Anlage und Instandsetzung der Kanalsysteme, waren Elemente einer vermutlich von den Sumerern übernommenen Schöpfungstheologie.
Die Babylonier gelten als ein tief religiöses Volk, dessen geistliche Lehren Güte und Wahrheit, Gesetz und Ordnung, Gerechtigkeit, Freiheit, Wissenserwerb, Mut und Treue forderten.
Das Gilgamesch-Epos
Der „älteste Roman der Welt“ (in verschiedenen Fassungen überliefert) wurde und wird vielfach gedeutet und interpretiert. Er umfasst unterschiedliche Themen, gibt Einblicke in die Denkweise der Menschen des Alten Orients im 3. Jahrtausend v.Chr., und behandelt Menschheitsfragen von überzeitlicher Bedeutung. Erzählt werden die Abenteuer des sumerischen Königs Gilgamesch, der vor mehr als 4.000 Jahren die Stadt Uruk regierte.
In den Mythen um Gilgamesch spielen die Götter zwar noch eine wichtige Rolle im Leben der Menschen; doch diese hinterfragen bereits Entscheidungen der Götter, opponieren sogar offen dagegen. Der Beginn einer Emanzipation von den Göttern. Durch die beginnende Lösung von den Göttern verlieren die Menschen auch einen Halt, sie können sich nicht mehr auf Orakel verlassen, werden auf sich selbst zurückgeworfen und müssen selbst entscheiden. So kann man im Gilgamesch-Epos den ältesten überlieferten Ausdruck aufklärerischen Denkens sehen.
Ein Grundmotiv der Gilgamesch-Dichtung ist die Suche nach Unsterblichkeit, die seither viele Religionen mehr oder weniger beschäftigt. Gilgamesch ist tief erschüttert durch die Erkenntnis seiner Endlichkeit und sucht verzweifelt der Unausweichlichkeit des Todes zu entrinnen. Eine Antwort auf diese Kernfrage aller Religionen – der Zeitlichkeit und Vergänglichkeit des irdischen Menschen – findet das Gilgamesch-Epos nicht. In einer der überlieferten Versionen (der altbabylonischen) wird der Rat erteilt, das Leben zu genießen und sich nicht um das unvermeidliche Ende zu kümmern. Doch kann man durch Frömmigkeit versuchen, das Wohlgefallen der Götter zu erringen und vielleicht doch noch Unsterblichkeit zu erlangen.(Ein seither in vielen Variationen immer wieder gepredigtes Konzept).
Der Einfluss des Gilgamesch-Epos auf die Bibel ist unübersehbar; am bekanntesten ist, dass die Sintflut-Erzählung sich schon in dem babylonischen Mythos findet.
Mit der organisierten Bewässerungs-Landwirtschaft und dem Leben hinter den Mauern der Städte ging anscheinend das Gefühl der Geborgenheit in der Natur verloren; Zukunftsangst kam auf, und sogar der Glaube an die Götter geriet ins Wanken. So gab es in Babylon die ersten Skeptiker der Religionsgeschichte.
Ein Grundanliegen der Babylonier war die Sehnsucht nach der Unsterblichkeit. Niemand konnte dem Tod entrinnen, doch mit dem traurigen Fortleben in der düsteren Unterwelt wollte man sich nicht abfinden und suchte Wege, diesem unausweichlichen Schicksal zu entrinnen. Im Gilgamesch-Epos ist diese Suche nach Wegen zur Überwindung des Todes ein zentrales Thema.
Eine überzeugende, schlüssige Erklärung des nachtodlichen menschlichen Schicksals fanden die Babylonier nicht, und auch spätere antike Lehren waren sich nicht sicher. Vielleicht mit Ausnahme mancher Mysterienreligionen, die in ihren Geheimkulten den Eingeweihten Einblicke in das Schöpfungsweben öffnen und die Angst vor dem Jenseits nehmen konnten? (3, S. 40).
Die Suche nach Wegen zum ewigen Leben, die seit Jahrtausenden religiöse Menschen bewegt, wurde zum ersten Mal in Mesopotamien gestellt und damit ein Thema angegangen, das noch heute lebendig ist.
Fortsetzung „Religionen der Antike“ IV.
Endnote:
*) Henotheismus = Eingottverehrung. Man nimmt an, dass es viele Götter gibt, ruft aber nur einen einzelnen Gott so an, als wäre dieser der einzige. Wohl ein Vorläufer des Monotheismus. (Nach Brockhaus Enzyklopädie).
Auch der jüdische Jahwe war ursprünglich ein Stammesgott der Juden.
Literatur.
(1) Clemen, Carl, Die Religionen der Erde, Bd. 1″, Goldmann, München 1966.
(2) Drehsen, Volker u.a., Wörterbuch des Christentums, Orbis, München, 1995.
(3) Hagl, Siegfried, Spreu und Weizen, Gralsverlag, Purgstall, 2003.
(4) Mertens, Heinrich A., „Handbuch der Bibelkunde“, Bechtermünz, Augsburg 1997.
(5) Roberts, John M., Knaurs illustrierte Weltgeschichte Band I, Droemer-Knaur, München 2001.
(6) Schwab, Gustav, Die schönsten Sagen des klassischen Altertums, Carl Ueberreuter, Wien, 1954.
(7) http://home.datacomm.ch/ahmet.sabanci/rw/3_babyl.htm.
(8) http://www.koinae.de/JENSEITS.htm.
(9) http://mypage.bluewindow.ch/Ahmet/bildung/semit.htm.
(10) http:://www.pinselpark.org/geschichte/einzel/a05_3000_orient/gilga/inhalt_epos.html.