(Veröffentlich in Gralswelt 17/2000)
Eine in konfuzianischer Tradition fixierte Gesellschaft sucht ihren Weg in die Zukunft: Japan machte in jüngster Zeit durch manche Krise auf sich aufmerksam. Doch das „Land der aufgehenden Sonne“ hat in der Vergangenheit schon manchen unerwarteten Aufstieg geschafft…
Die Öffnung der japanischen Häfen Mitte des 19. Jahrhunderts brachte dem Land wirtschaftliche Turbulenzen, und die Preise für Grundnahrungsmittel stiegen sprunghaft an. Das unwissende Volk machte die „fremden Barbaren“ für seine Not verantwortlich und verlangte deren Vertreibung. Es kam zu militärischen Konfrontationen mit dem Westen, die Japan – wie zuvor China – seine technische Rückständigkeit schmerzhaft vor Augen führte und ihm „ungleiche Verträge“ aufzwang. Regierungskritiker wurden von dem reformfeindlichen Shogunat unterdrückt und sogar hingerichtet. Erst ein Bürgerkrieg fegte das Tokugawa-Shogunat nach 264 Jahren hinweg und erneuerte das kaiserliche Regime.
Die Meiji Revolution von 1868
„Meiji“ (erleuchtete Regierung) war das Motto des jungen Kaisers Mutsuhito (1852-1912, Regierungszeit 1868-1912), das einer Epoche japanischer Geschichte den Namen gab. Der Tenno, als Abkömmling der Sonnengöttin verehrt, wurde Staatsoberhaupt. Die Verfassung von 1889 machte ihn zum Souverän mit großer Macht. Zwar wählte das Volk ein Unterhaus, doch dessen Rechte waren begrenzt, da die Beamten, einschließlich der Minister, nur dem Tenno verantwortlich waren und die Armee völlig außerhalb der parlamentarischen Kontrolle stand. Das Staatsziel des Tenno hieß: „Ein reiches Land und eine starke Armee“. Japan war von westlichen Staaten gedemütigt worden und wollte unter allen Umständen den Anschluss an den westlichen Standard finden.
Mit einem unerhörten Kraftakt sollte das feudale Japan innerhalb einer Generation zu einem Industriestaat werden. Schulpflicht und allgemeine Wehrpflicht wurden eingeführt, und der Export (zunächst vor allem Seide und Tee) ausgebaut. Besonderen Stellenwert erhielt die Armee.
Ein fleißiges Volk und niedrige Löhne machten das unmöglich Scheinende möglich, wenn auch zu Lasten des einfachen Volkes, besonders der Bauern. Mit westlichen Maschinen und japanischen Löhnen gelang der industrielle Durchbruch. Nach wenigen Jahrzehnten stürmischer Entwicklung, verbunden mit Hungersnot, inneren Erhebungen und vielen Turbulenzen, war die japanische Industrie modernisiert und auf manchen Gebieten, wie der Baumwollindustrie, dem harten internationalen Wettbewerb gewachsen.
Mit der westlichen Technologie kamen auch westliche Sitten, westliche Kleidung und westliche Speisen in Mode; was manchmal zu skurrilen Verzerrungen führte:
Ein deutscher Arzt berichtet 1877 aus Tokio:
„…hat die japanische Regierung es für gut befunden, Frack und Zylinder zur offiziellen Kleidung für Neujahrsbesuche zu beordern. Also wandeln Gestalten, die an Komik jede Phantasie übertreffen, über die Straßen der Hauptstadt. Ihr armen Japaner, die ihr in unaussprechlich schlecht sitzende Fräcke und schlendrige Hosen gezwängt werdet! Und auf dem Haupt meist niemals passende Angströhren!…Wer diese Straßenszenen und Antichambregruppen nicht mit eigenen Augen gesehen hat, kann sich unmöglich ein Bild davon machen. Dabei sehen dieselben Menschen in ihrer heimatlichen Feiertagstracht so gut, ja, oft würdig und vornehm aus!“
„Wir schämen uns nicht länger, der Welt als Japaner gegenüberzustehen…Der Name Japaner bedeutet jetzt Ehre, Glanz, Mut, Triumph und Sieg. Vorher kannten wir uns nicht, und die Welt kannte uns nicht. Aber jetzt haben wir unsere Kraft erprobt.“ Tokutomi SOHO, 1894.
Ein stolzes Volk strebt nach Anerkennung
Japan fühlte sich stark und wollte seinen politischen Einfluss in der Welt ausdehnen, wobei es sofort mit China in Konflikt kam. Beide Nationen erhoben Anspruch auf die Halbinsel Korea, und auf koreanischem Boden wurde 1894 ein Krieg ausgetragen, den Japan militärisch für sich entschied.
Bald darauf steht die Großmacht Russland weiteren japanischen Expansionsbestrebungen im Wege. 1904 kommt es zum russisch-japanischen Krieg, den Japan erneut gewinnt und damit als internationale Macht, kaum 40 Jahre nach der erzwungenen Öffnung, die weltpolitische Bühne betritt.
Die Erfolge der Armee bestimmen die Politik. 1931 drangen japanische Truppen in die Mandschurei ein und provozierten einen Konflikt mit China, der 1937 zu einem mit äußerster Härte ausgetragenen Krieg führte. Japanische Truppen eroberten große Teile Chinas und landeten 1940 sogar in Indochina (Vietnam). Die Ausweitung der japanischen Einflussgebiete auf ganz Ostasien schien kaum mehr zu bremsen.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Japan auf dem Weg zu einer Großmacht. Die Volksbildung begann Früchte zu tragen, die Industrialisierung schritt voran, und Arbeiterinnen und Arbeiter strömten vom Land in die Städte. Die „Zaibatsus“ gaben den Ton an. Das waren Familien-Imperien (z. B. Mitsui, Mitsubishi, Sumitomo, Yäsuda), die eine große Bank und zahlreiche Wirtschaftsunternehmen kontrollierten. Später wurden sie gezwungen, sich in den Dienst der von der Armee geforderten Rüstung zu stellen.
Dieser Aufstieg Japans zur größten Wirtschaftsmacht Ostasiens verlief nicht ohne Einbrüche (z. B. durch die Weltwirtschaftskrise vom 1929), für die Ausländer verantwortlich gemacht wurden. Nationalistische und faschistische Ideen tauchten auf, von großen Teilen der Armee unterstützt.
Westliche Staaten erschwerten Importe japanischer Billigwaren, und die USA und Australien wiesen japanische Auswanderer ab. So musste sich der japanische Expansionsdrang auf wirtschaftlichem wie militärischem Gebiet nach Asien richten, in die Mandschurei und nach China.
Trotz mancher Spannungen mit westlichen Ländern funktionierte der Technologie-Transfer. Japan konnte eine schlagkräftige Marine und eine ernstzunehmende Luftwaffe aufbauen; ohne Unterstützung aus den USA und Europa, ohne die Ausbildung japanischer Wissenschaftler an westlichen Universitäten eine Unmöglichkeit. Ganz Asien, alle Kolonialvölker blickten gebannt auf Japan, das aus eigener Kraft aufgestiegen, mit westlichen Industrieländern konkurrieren konnte.
Das japanische Sozialsystem
„Der Aufstieg Japans zu einem führenden Industrieland war begleitet von einem auf den ersten Blick unsichtbaren Wohlfahrtssystem, das in der Wirtschaft selbst verankert war und den Staat entlastet. Die Unternehmen schufen Arbeitsplätze, und fast jeder erwachsene Japaner hatte einen (Frauen standen unter dem Druck, bei der Heirat ihren Job aufzugeben). Manchmal war es eine langweilige Arbeit ohne Aufstiegschancen, aber Millionen Japaner wurden mit Tätigkeiten beschäftigt, die man in den USA oder Europa längst „wegrationalisiert“ hätte. Nach konfuzianischer Tradition fühlten sich die Unternehmer als neue Form der „Großfamilie“ ihren Mitarbeitern verpflichtet und wollten so gut wie nie einen auch noch so entbehrlichen Angestellten entlassen.
Zusammen mit der auch heute noch bestehenden teilweisen Abschottung des japanischen Marktes gegen ausländische Konkurrenz (nicht unbedingt durch Zölle, doch mit wirkungsvollen, sensiblen japanischen Mitteln) entstand eine auf den ersten Blick absurde Situation: Das Leben in Japan war teuer (ein Apfel kostete 4 Dollar, eine Dose Bier 5 Dollar, japanischer Reis war in etwa 7 mal so teuer wie amerikanischer), und ein Teil der japanischen Wirtschaft (z. B. Nahrungsmittelindustrie, Einzelhandel, Landwirtschaft) war, gemessen am Weltmaßstab, höchst unproduktiv, um nicht zu sagen rückständig; denn es wurden viel zu viele Arbeitskräfte mitgeschleift. Gleichzeitig gab es eine äußerst produktive Exportindustrie (Unterhaltungselektronik, Automobil, Foto, Optik usw.), die den Rest der Welt das Fürchten lehrte, aber die Gesamtbilanz nur zum Teil ausgleichen konnte. (Das Mc Kinsay Global Institute schätzte 1993 die Gesamtproduktivität der japanischen Wirtschaft nur auf 72% der US-Wirtschaft.).
Ähnlich anderen Industrieländern kam dieses Wohlfahrtssystem unter Globalisierungsdruck. Die Amerikaner drängten, den japanischen Markt zu öffnen; in der Wachstumseuphorie der letzten Jahrzehnte wurde nicht selten überinvestiert und die Immobilienpreise explodierten (das Gelände des alten Kaiserpalastes in Tokio war vor wenigen Jahren auf dem Papier fast so viel wert wie ganz Florida). Die fällige Korrektur des überhitzten Booms stürzte Japan in eine tiefe Finanzkrise, die Banken und Unternehmen beutelte. Die Sozialgarantien der Konzerne waren nicht mehr zu halten, es gab Entlassungen, und das Selbstbewusstsein der erfolgsverwöhnten Nachkriegsgeneration wurde schwer erschüttert. Nun sind Reformen gefragt – wie in fast allen Industrieländern. Derzeit ringt Japan um den rechten Weg zwischen konfuzianischer Tradition und dem vor allem von den USA und der Weltbank propagierten Neo-Kapitalismus. Ein Kurswechsel in Japan tut Not, doch fallen einer traditionsverhafteten Gesellschaft, in der niemand „sein Gesicht verlieren“ will, radikale Wendungen besonders schwer. Anlass zur Schadenfreude besteht für uns Europäer nicht, denn wir ringen um die Verminderung einer auf Dauer untragbaren Massenarbeitslosigkeit, die man in Japan nicht erst entstehen lassen möchte.“
Nach William GREIDER: „Endstation Globalisierung“, Wilh. Heyne, München, 1998.
Im April 1940 feierte Japan die 2.600ste Wiederkehr der Reichsgründung durch den legendären Jimmu Tenno. Niemals in diesen Jahrtausenden stand ein Feind als Sieger auf japanischem Boden, und hundert Millionen Japaner blickten voll Stolz auf ihre Armee und deren Erfolge.
Japan war die dominierende Macht im Osten, es wollte ganz Ostasien unter seiner Flagge versammeln, damit es unter japanischer Führung zur ersten Macht der Erde werde. Mit der Sowjetunion hatte Japan sich arrangiert, so dass nur noch die USA dem scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg der ersten ostasiatischen Macht im Wege standen.
Der Westen blockt ab
Die Nordamerikaner drohten mit einem gefährlichen Embargo: Die Zufuhr kriegswichtiger Rohstoffe wie Öl und Kautschuk soll den Japanern abgeschnitten werden, es sei denn, die seit 1931 widerrechtlich besetzten Gebiete wurden geräumt…
Diese Bedingung ist für die stolze, in Samurai-Tradition lebende japanische Armee unannehmbar. Als Verhandlungen scheitern, greift Japan an: Am 7. Dezember 1941 bombardieren japanischer Trägerflugzeuge den amerikanischen Flottenstützpunkt Pearl Harbour.
Die USA werden angeblich überrascht. Tatsächlich waren sich amerikanische Japan-Kenner wohl über einen zu erwartenden Angriff im Klaren. Großbritannien ist gegen Hitler-Deutschland in Europa gebunden. So gelingt es den Japanern in wenigen Monaten große Teile Ostasiens zu erobern und wichtige Rohstoffquellen zu sichern.
Japanische Eroberungen und versenkte britische Schlachtschiffe werden zum Fanal: Der Kolonialismus hat seinen Höhepunkt überschritten, und kein Kolonialvolk wird in Zukunft seine Kolonisierung widerstandslos hinnahmen.
Wo die Japaner erscheinen, begrüßen sie asiatische Nationalisten als Befreier: Denn die Sieger bringen die zündende Parole „Asien den Asiaten“: sie nutzen den Hass gegen die Weißen und versprechen Freiheit. Diese japanfreundliche Stimmung kippt bald, als sich zeigte, dass Japaner in ihrem Sendungswahn die eroberten Lande nicht weniger skrupellos ausbeuten als klassische Kolonialmächte.
Die kriegerisch gesinnten japanischen Patrioten hatten die wirtschaftlichen und militärischen Möglichkeiten ihres Inselreiches ebenso überschätzt wie die Entschlossenheit ihrer Kriegsgegner unterschätzt. Katastrophale Rückschläge auf allen Fronten, bis hin zur Zerstörung von Hiroshima und Nagasaki durch die ersten Kernwaffen, schleuderten Japan in die erste totale Niederlage seiner Geschichte. Die militärischen Großmachtträume waren in Feuer und Blut untergegangen, die Bevölkerung deprimiert und verzweifelt, das Land tief gedemütigt und schwer zerstört.
Ein asiatisches „Wirtschaftswunder“
Nach der Niederlage stand Japan unter amerikanischer Militärverwaltung, die Reformen erzwang. Eine demokratische Verfassung wurde verordnet, die Zaibatsus entflochten, der Anspruch des Tenno auf Göttlichkeit beendet, Gewerkschaften gegründet usw. Japan sollte nach amerikanischem Vorbild modernisiert werden.
In der Innenpolitik prallten konservative und progressive Kräfte aufeinander, und linke Parteien machten sich Hoffnung auf einen sozialistischen Staat, die im aufkommenden Kalten Krieg schnell zerstoben.
Nach einiger Lethargie nach der Kapitulation begann der Aufbau der Wirtschaft. Zunächst fühlten sich die Japaner als „Lehrlinge“ der USA, von denen sie Technologien und Organisationsstrukturen übernahmen. Die Aufholjagd, um den Anschluss an westliche Standards zu finden, war Mitte der 70er Jahre beendet. Seither kann Japan auf einer steigenden Zahl von Gebieten den Gang der Dinge dominieren.
Dabei half die Mentalität der Bewohner der „kleinen Insel ohne Ressourcen“ („hiagaisha ishiki“), die schon immer zusammenstehen mussten, um sich der Außenwelt gegenüber zu behaupten.
Die vom Westen als alleinseligmachend angesehenen Vorstellungen von Wettbewerb und Freihandel werden benutzt, wo es sinnvoll scheint, doch man ist nicht unbedingt überzeugt, dass der kapitalistische Marktprozess nationalen Zielen immer am besten dient. So hat auch die Entflechtung der Tsaibatsus lediglich zu anderen, loseren Verflechtungen geführt: den „Keiretsus“. Diese sind weniger durch die Besitzverhältnisse als durch Tradition verbundene Nachfolger der Tsaibatsus.
Staatlichen Eingriffe in die Wirtschaft steht man in Japan weniger skeptisch gegenüber als im Westen. Sprichwörtlich ist es das MITI (Ministerium für internationalen Handel und Industrie), das japanische Unternehmen politisch lenkt und unterstützt. Von diesem Ministerium wurde Japan z. B. auf den „High-Tech-Kurs“ getrimmt. Allerdings hat es bei der Bekämpfung der Korruption versagt und die Finanzkrise, die derzeit (2000) Japan lähmt, mit verschuldet.
Die schwerste Sprache der Erde
„Die Eigenart der japanischen Sprache lässt sich zum Teil aus dem Ungestüm erklären, mit dem die Japaner der Frühgeschichte die chinesischen Schriftzeichen übernahmen und mit dem die Japaner von heute Tausende von amerikanischen Wörtern japanisieren…
Die japanische Schrift besteht aus den beiden Silbenalphabeten Katakana und Hiragana und den eigentlichen Schriftzeichen, deren Zahl durch das Kultusministerium offiziell auf 1.850 beschränkt wurde. Offiziell genügen sie zum Lesen der japanischen Sprache. In Wirklichkeit benutzen Zeitungen, vor allem aber Fachzeitschriften und Fachbücher, weitere und beleben auch bereits ausgeschiedene Zeichen für den erneuten Gebrauch, so dass man sagen kann, dass es 2.500 bis 3.000 Schriftzeichen bedarf, um als gebildeter Mensch die einschlägige Lektüre lesen zu können.
Eine ernste Schwierigkeit bei Lesen der Schrift besteht drin, dass das gleiche Schriftzeichen in verschiedener Weise gelesen werden kann und auch gelesen werden muss. Da die Schriftzeichen in verschiedenen Perioden aus China übernommen wurden, orientiert sich die chinesische Aussprache, die die Japaner bis heute als sino-japanische Lesart bewahren, entweder an den „Gesprächen“ des Konfuzius und deutete so auf eine nordchinesische Lesart (kanon), oder sie ist an den Suren des Buddhismus orientiert und erweist sich als südschinesische Lesart (goon).
Die Silbenschrift Katakana wird benützt, um Telegramme zu verfassen, zur Umschreibung ausländischer Namen und Wörter und für die Lesebücher von Volksschülern der ersten Klassen. Hiragana wird bedeutend mehr benutzt und füllt etwa zwei Drittel der normalen, gedruckten oder geschriebenen Zeile, weil Vor- und Nachsilben und die sehr zahlreichen Partikel in Hiragana geschrieben werden. Die Schriftzeichen selbst bilden die Stämme der Wörter und haben eine bestimmte Bedeutung, wie zum Beispiel Lernen, Sehen, Ursprung, Land, die sich aber nicht zu streng auf einen Inhalt festlegen lässt. 2.000 bis 3.000 Bedeutungen schriftlich fixiert zur Hand zu haben, um sich auszudrücken, bedeutet zunächst einen visuellen sprachlichen Reichtum von unvergleichlicher Größe, verglichen mit dem westlichen Alphabet, das weit weniger genaue Gedächtnisstützen bereithält, aber darum zum abstrakten Denken zwingt, also eine höhere Stufe der Sprachentwicklung kennzeichnet.
Welchen Schwierigkeiten sich der Schüler des Japanischen gegenübersieht, erhellt sich aus der Betrachtung einer weiteren Eigenart dieser Sprache: Zwei, drei oder noch mehr Schriftzeichen werden zu einem Wort zusammengesetzt, wobei die Lesart eines jeden Bestandteiles dieses Wortes nicht nach logischen Prinzipien ausfindig gemacht werden kann, sondern durch Memorieren der jeweils gebräuchlichen Lesart, also schlechthin durch das Gedächtnis erfasst werden muss.
Der Student der japanischen Sprache darf sich nicht durch Mangel an Logik entmutigen lassen, sondern muss sich an energische Gedächtnisarbeit halten. Wenn man bedenkt, wie schwer es für sprachbegabte Nichtjapaner ist, diese Sprache zu lernen, und sich vergegenwärtigt, dass alle Japaner sie einschließlich der irritierenden Lesarten beherrschen, kann man sich ungefähr vorstellen, durch welche höchst praktische Schule des Fleißes, der Geduld und des zähen Durchhaltens die Japaner gehen.“
Nach Helmut ERLINGHAGEN; „Japan“, dtv, München, 1979.
Ein anderes Weltverständnis der Asiaten
In der japanischen Wirtschaft wie im gesellschaftlichen Leben zeigen sich Unterschiede im Weltverständnis zwischen Ost und West, die man im Umgang mit Asiaten bedenken muss:
In Asien drückt man sich nicht gerne strikt und präzise aus; man lässt mehrere Möglichkeiten offen, um beweglich zu bleiben. Diese Haltung mag mit der jeweiligen Weltanschauung zusammenhängen. Der strenge Monotheismus des Abendlandes ist in Ostasien eine junge Erscheinung; er steht in Konkurrenz zu Buddhismus, Konfuzianismus, Taoismus, Shinto und vielen anderen Strömungen, die sich manchmal vermischen. Asiaten finden nichts dabei, in verschiedenen Tempeln zu opfern, um keine der Chancen für eine Hilfe aus dem Unsichtbaren auszulassen.
Europäer sind dazu erzogen, nur an einen Gott zu glauben, neben dem andere Götter keinen Platz finden. Jahrhundertelang schloss sich dieser strikte Monotheismus nicht nur gegen polytheistische Religionen ab; das Christentum stand auch Judentum und Islam unversöhnlich gegenüber, und sogar christliche Kirchen beschuldigten sich untereinander der Ketzerei. So erzogen Sprache, Schrift und Religion den Abendländer zu klarem und präzisem, aber auch zu dogmatischem und manchmal zu engem, von nur einer Vorstellung beherrschtem Denken.
Derzeit spricht alles von der Finanzkrise in Ostasien, für die nicht zuletzt Japan verantwortlich ist. Der Druck auf Japan wächst, Reformen durchzuführen, damit nicht die Schwäche des bedeutendsten Industrielandes Asiens die ganze Weltkonjunktur in eine Rezession reißt. Die derzeitigen Probleme Japans werden auf verschiedenen Ebenen gesucht:
* Die Regierung ist – wie in ganz Asien – nur begrenzt demokratisch und sehr konservativ. Es fällt schwer, unvermeidliche Reformen anzupacken.
* Die Keiretsus sind mit den Behörden durch ein Geflecht von Korruption vernetzt, das u. a. zu der katastrophalen Lage vieler japanischer Banken beigetragen hat, die Kredite in unverantwortlicher Weise vergaben.
*Die japanische Industrie befindet sich in einer Übergangsphase. Bisher wurden viele Erfindungen aus Europa oder den USA übernommen und in erstaunlich kurzer Zeit fertigungsreif entwickelt. Einige Beispiele: Aus den USA wurden Mikrochips und Kopiergeräte übernommen, aus Europa der Mikrowellenherd, das Telefax- und das Videogerät. Alles Produkte, mit denen Japan der westlichen Konkurrenz Probleme bereitet. Inzwischen haben andere Länder gelernt, ihre Ideen selbst zu vermarkten, nicht mehr so lange zu zögern, bis Japan den Markt erobert hat. Damit beginnt für die Japaner eine neue Herausforderung: Sie müssen beweisen, dass sie nicht nur Ideen übernehmen, entwickeln, produzieren können, sondern dass sie auch selbst kreativ sind. Nicht alle trauen ihnen genügend Kreativität zu.
Wir tun gut daran, von den Japanern zu erwarten, dass sie sich ihren Problemen in mutiger Samurai-Manier stellen und sie lösen. Asiatische Problemlösungen dauern oft länger, als wir in Europa erwarten, dafür sind sie in der Regel gut abgesichert und finden breiten Konsens. Was die Kreativität betrifft, so sollten wir in Europa oder den USA nicht in alte Überheblichkeiten zurückfallen und glauben, farbigen Völkern überlegen zu sein.
Die globalen Herausforderungen haben in Ostasien zu Krisen geführt, die nicht zu verharmlosen sind; doch bin ich – aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen mit Asiaten – zuversichtlich, dass die Ostasiaten daraus gestärkt hervorgehen.
Literatur:
(1) Colcutt, Martin u. a.: „Japan“, Christian Verlag, München, 1989.
(2) Erlinghagen, Helmut: „Japan“, dtv, München, 1979.
(3) Kiyoshi, Inoue: „Geschichte Japans“, Campus, Ffm., 1995.
(4) Ladstätter/Linhart: „China und Japan“, Carl Ueberreuther, Wien, 1983.
(5) Merson, John: „Straßen nach Xanadu“, Hoffmannund & Campe, Hamburg, 1989.
(6) Zierer, Otto: „Götterwind“, Seb. Lux, Murnau, 1960.